DIE LOGISCHEN VORAUSSEIZUNGEN UND IHRE FOLGERUNGEN IN KANT»S ERKENNTNISSLEHRE ...

G. Schenke

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U.B.C. LIBRARY

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1876

Die

loti;i8chcii Voraui^setziin^en und ihre Folgerungen

in

Kant's Erkenntnisslehre.

Inaugural-Dissertation

zur

Erlangung der philosophischen Doctorwürde

verfasst

und mit Genehmigung der philosophischen Facultät

der vereinigten Friedrichs -Universität

Halle-Wittenberg mit den Thesen öffentlich zu vertheidigen

am

Vill. Januar MDCCCLXXVI Vormittags 11 Uhr

von

GUSTAY SCHENKE,

Predigtamtäcaadidat, aus Sagan,

gegen

KARL CLEVE, Stud. theol., ADOLPH MUELLER, Stud. phil.

HALLE.

Jjt'Utik von E, Karrat».

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Sr. Hocbhrwürden

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Herrn Pasbr Pirscher,

Institntsvorfijher zu Lahn,

aus dankbaüi* Verehrung

ge"wimet.

Sr. Hochehrwürden

Herrn Pastor Pirscher,

Institutsvorsteher zu Lahn,

aus dankbarer Verehrung

gewidmet.

JJer Versuch Kaufs, die allgemeine Logik als Leitfaden in die kritisclien Untersuchungen des Erkenntnissvermögens einzuführen, hat eine verschiedene, meist ungünstige Be- urtheilung erfahren. Es liandelt sich dabei namentlich um seine Ableitung der Kategorien von den logischen Urtheils- formen. Sie nennt Herbart einen ganz einzeln stehenden Missgriif, durch seine -Verlegenheit veranlasst, da sich ihm die rechte Hilfe nicht sogleich dargeboten hätte. Trendelen- burg tadelt die Ableitung der Kategorien allein aus den Urtheilsformen. Diese seien nur subjectiv. Dadurch habe sich in Kant der Irrthum, dass vor subjectiver Zuthat das Ding an sich nicht erkannt werden könne, nur mehr ver- festigt. Nach Bona Meyer ist die Benutzung der logischen Empirie bei der Aufsuchung der Kategorien eine irrige; die nothwendigere Berücksichtigung der psychologischen Empirie habe darunter gelitten. Dagegen ergreift Lotze Partei für Kant: „Nirgends, obwohl die neuere Speculation wenig zur Anerkennung dieser Thatsache geneigt ist", sagt er, „findet sich ein Erkennungszeichen für die Erkenntnissformen als in der Betrachtung der reinen Denkformen. Es wird mög- lich sein, sich dieser reinen Formen bewusst zu werden und die in ihnen liegenden Gedanken zu entwickeln. Wenn auch diese einfache Ansicht Kant's durch die Verbindung mit einer wunderbaren Psychologie und durch untergeord- nete Mängel manchem Tadel unterlegen hat, so muss sie doch aufrecht erhalten werden, so lange von factischen Voraussetzungen die Rede ist." Dieser vollständige, noch ungelöste Widerspruch in der bisherigen Kritik Kant's, in einem Punkte zumal, auf welchen er selbst einen sehr hohen Werth legte, die abschätzigen Urtheile über ihn insbesondere

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geben Veranlassung*^ den Gegenstand des Streites einer ge- naueren Kcnntnissnabme zu würdigen, als gewöhnlich ge- schieht. Es soll in dem Folgenden über die logischen Vor- aussetzungen Kant's sammt ihren Folgerungen, wie wir sie in der „Kritik der reinen Vernunft" und in den „Prolego- menen zu einer jeden künftigen Metaphysik" finden, Bericht erstattet werden. Die Aufgabe soll in der Beantwortung folgender drei Fragen bestehen :

I. Welche logischen Voraussetzungen hat Kant in seiner

Kritik des Erkenntnissvermögens gemacht? II. Welche Folgerungen hat er daraus gezogen? III. Mit welchem Rechte ist dies geschehen?

I.

Auf das Wesen des logischen Dqikens hatte Kant früh sein Augenmerk gerichtet. Die erste seiner wichtigeren kritischen Schriften: „Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren", vom Jahre 1762, beschäftigt sich be- reits mit der Natur der reinen Denkformen. In ihren De- finitionen, sowie in der Bestimmung ihres Verhältnisses zu den Formen des Erkennens liegen im Wesentlichen seine späteren Anschauungen, welche den Gegenstand dieser Be- trachtungen bilden sollen, schon vorgebildet. Er sieht sich in Widerspruch mit der gewöhnlichen, schulmässigen Syl- logistik und benutzt sogleich in kritischem Interesse die Ergebnisse seines Nachdenkens, um die Syllogistik, den „unnützen Plunder", aus der Philosophie zu entfernen. Die Einsicht in das logische Erkennen macht ihm den Unter- schied des realen Erkennens bemerklich. Das logische Grundgesetz der Identität ist nicht zugleich das Gesetz der Verbindung realer Gründe und realer Folgen. In seiner nächsten Schrift: „Versuch die negativen Grössen in die Weltweisheit einzuführen" (1763) unternimmt er, vorerst den Unterschied der negativen Grössen von der logischen Ver- neinung festzustellen. So ist auch weiterhin die formale Logik hauptsächlich ein Stützpunkt für seine kritischen Untersuchungen. Die Wichtigkeit, welche sie in dieser zwei- ten Periode seiner philosophischen Entvvickelung erlangt hat,

steigert sich in der Kritik der reinen Veniunft. In seinem Bestreben, die verschiedenen wissenschaftlichen Disciplinen genau zu unterscheiden, nimmt Kant bei der Feststellung des Begriffes einer transcendentalen Logik gewissenhaft auf die rein logischen Bestimmtheiten des Denkens Bücksicht. Im weiteren Verlaufe seiner Untersuchungen orientirt er sich öfter an der formalen Logik, weist auf ihre beschränkte Leistungsfähigkeit hin, um Missverständnissen auszuweichen, denen Andere, die dogmatischen Metaphysiker, mit ihren ungerechtfei;jjgten Anwendungen logischer Begriffe innerhalb der Metaphysik unterlegen sind. Wo er von der allgemeinen Logik positiven Gebrauch macht, vergisst er nicht, zugleich auf die Natur ihrer Bestimmungen näher einzugehen. So hat er fast überallhin in seine Ausführungen logische Be- merkungen eingestreut. Sie bestimmen alle, mehr oder weniger, die Entscheidung der Hauptfragen, oder sollen dazu dienen, die Entscheidungen der Kritik ins rechte Licht zu stellen. Zur leichteren Uebersicht will ich das sachlich Zusammengehörige zusammenfassend, soweit Kant dazu die Hand bietet, nunmehr über sie als Voraussetzungen be- richten.

Zunächst die allgemeinen Bestimmungen. Die Wissen- schaft der allgemeinen Logik hat zu ihrem Gegenstande das Denken; aber nicht das Denken in allen seinen Be- ziehungen, sondern, wie schon ihr Name andeutet, in einer bestimmten, besonderen Richtung. Unser alltäglicher Ge- dankenlauf wird auf die mannigfaltigste Weise beeinflusst durch die schwankenden Gefühle, das Spiel der Einbildungs- kraft, den grösseren oder geringeren Grad der Treue und Sicherheit des Gedächtnisses, durch die Macht der Gewohn- heit, durch Neigungen und Vorurtheile. Von allen diesen psychologischen Bestimmtheiten des Denkens soll hier nicht geredet werden. Dies gereicht der Logik nur zum Vortheil. Um Regeln für das Denken unter diesen Umständen auf- zustellen, bedürfte es einer nur auf dem Wege der Erfah- rung zu erlangenden Erkenntniss des psychologischen Mecha- nismus, wie er sich in allen unseren Lebensäusserungen wirksam erweist. Durch Erfahrung kommen wir aber nie-

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mals zu einem Abschlüsse unserer Erkenntnisse, zur vollen Wahrheit. Vielmehr wollen die Denkregeln der allgemeinen Logik a priori sein. Das Denken soll betrachtet werden, wie es unter allen Stimmungen des Gemüthes, die nicht blos wirklich, sondern auch nur möglich sind, dasselbe bleibt und sich damit als von denselben unabhängig und seiner selbst gewiss darstellt. Das Denken bleibt dabei in seinem eigenen Gebiete; die Denkregeln werden aus seiner eigenen Natur hergeleitet und bedürfen nicht der zweifelhaften Hilfe von aussen her. Als solche, als so zu sagen angeborene Wahrheiten treten sie auf. Man klinnte einwenden: das macht keinen Unterschied aus; denn ihrer können wir ja auch nur durch Reflexion, Selbstbesinnung, also innere Er- fahrung bewusst werden. Gewiss, aber das macht den Unterschied aus, dass wir sie dann als zum Wesen des Menschen gehörige und nicht durch äussere Einflüsse be- wirkte und bedingte wahrnehmen. Dies soll wol der Sinn des Apriorischen der logischen Denkregeln an der ange- zogenen Stelle sein. Wir werden also hier einige Einsicht in die Natur des menschlichen Verstandes, dessen Thätig- keit das Denken ist, zu erlangen hoffen dürfen ^).

Indessen ist auch diese Fassung des Denkens noch zu weit. Man unterscheidet ferner beim Denken den gedachten Gegenstand nebst der Empfindung in Folge der Einwirkung eines wirklich vorhandenen Gegenstandes von der Art und Weise, in welcher der Gegenstand von Seiten des Denkens gedacht wird; kurz den Inhalt der Gedanken von ihrer Form. Danach stellt Kant den empirischen Begriffen die reinen Begriffe gegenüber. Jene sind die Begriffe mit Bezug auf ihren empfundenen Inhalt, diese die Begriffe mit Bezug auf ihre Form. Gegen den Inhalt und zwar gegen all und jeden Inhalt der Gedanken schliesst sich die allgemeine Logik ab. Sie untersucht nur die reinen Begriffe, ebenso nur die Form der Urtheile und Schlüsse, der beiden andern hauptsächlichsten Denkformen. Das Gebiet der Logik wird

0 Vergl. Kritik der reinen Vernunft Seite 101 u. 102 und S. 40 (v. Kirchmann).

somit noch enger. Die grössere Armuth an Gegenständen der Betrachtung wird jedoch durch die grössere Wahrschein- lichkeit einer genaueren Untersuclmng hei einer geringeren Anzahl der Objecte aufgewogen. Um so sicherer und treftcn- der werden dcmgemäss die Aussagen der Logik uns er- scheinen. Auf einen grossen, bedeutungsvollen Tlieil der Wahrheit leisten wir Verzicht, um so werthvoller muss die Erkenntniss sein, die uns bleibt. Diese abstracte Fassung des logiseben Denkens hat bei Kant die weitgehendsten Folgen. Er hat sich gerade dadurch vielen Tadel zuge- zogen, i)

Es giebt verschiedene Wissenschaften. So wird auch in den einzelnen Wissenschaften das Denken, wenigstens zum Theil, in verschiedener Weise, in jeder Wissenschaft eigentbümlich, vor sich gehen. Eine Logik des besonderen Verstandesgebraucbs in einer beliebigen Wissenschaft würde Regeln enthalten, nur über eine gewisse Art von Gegen- ständen richtig zu denken. Sie wäre eine Propädeutik für jene einzelne Wissenschaft. Die allgemeine Logik geht jedoch auf das Denken überhaupt ohne Rücksicht auf eine besondere Verfahrungsweise desselben. Die besonderen Re- geln des Denkens innerhalb der einzelnen Wissenschaften können nur einseitige und zufällige sein. Die allgemeine Logik weist dagegen solche Regeln auf, ohne die jegliches Denken überhaupt unmöglich wäre, also allgemeine und nothwendige.-)

Was sind nun aber diese reinen Denkformen, ohne die alles Denken unmöglich wäre, ihrem Inhalte nach? Mögen Vorstellungen in dem Verstände uranfänglich a priori liegen oder mögen sie uns empirisch gegeben sein: der Verstand, eine Kraft wie alle Kräfte der Natur, in seiner Wirksam- keit an bestimmte Gesetze gebunden (Kr. S. 290), braucht sie alle im Verhältniss gegen einander nach bestimmten Gesetzen, wenn er denkt. In dem Bewusstsein sind also Vorstellungen zusammen. Der denkende Verstand bemäch- tigt sich ihrer und stiftet zwischen ihnen nach Gesetzen

1) Kr. S.99flf., 118, 165, 294. ^) Kr. S. 101.

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Verhältnisse, Beziehungen. Was vorher nur zusammen war ohne Rechts.2:rund , das erscnent jetzt als geordnet und zu- sainm ngchörig. In diesem lU'zichcn der Vorstellungen auf einander besteht die Tliätigkeit des Verstandes. Er erzeugt dadurch nicht einen neuen Inhalt neben den ihm gegebenen Vorstellungen, sondern für die gegebenen Vorstellungen allein die gesetzmässigen Formen ihres Zusammenseins in unserem Bevvusstsein. In diese Formen treten die Vorstel- lungen ein, wenn sie gedacht werden, und diese Formen verschati't ihnen seinerseits der denkende Verstand. Das sind jene reinen Denkformen nach ihrem Inhalte. i)

Die allgemeine Logik setzt sie als gegeben voraus. Sie fragt nicht nach ihrem Ursprünge im Verstände selbst, auch nicht nach ihrer Giltigkeit betreffs der Wahrheit oder Unwahrheit der Erkenntnisse, die man vermittelst derselben erlangt; sondern sie fragt: welches sind die allgemeinen und noth wendigen Formen des Denkens, in die wir alle Empfindungen fassen, wenn wir denken? ^ Wie sollen wir demnach denken, wenn wir richtig denken wollen? Zur Beantwortung dieser Frage gelangt sie durch Auflösung der thatsächlich gegebenen Denkformen in ihre Bestandtheile, ihre Elemente.'^) Die Auflösung eines Ganzen in seine Theile heisst Analysis. Indem die allgemeine Logik die Begrifle, Urtheilc, Schlüsse in ihre Elemente auseinanderlegt, um daraus die Gestaltungen des Denkens kennen zu lernen, wird sie die von uns alltäglich gebrauchten Verstandes- formen analysiren. Und dies ist eine so umfangreiche und wichtige Aufgabe, dass ihre Lösung einen Haupttheil und zwar den ersten Haupttheil der allgemeinen Logik ausmacht, und derselbe von der Methode, welche dabei angewendet wird, den Namen Analytik empftlngt.^)

Die Denkgesetze sollen allgemein und nothwendig sein, d. h. sie sollen allenthalben so und nicht anders wirksam und ihr Gegentheil unmöglich sein. Nur durch sie ist unser Denken möglich und ihr Vorhandensein der Anfang aller Erkenntniss. Würden unsere Gedanken ihnen widersprechen.

1) Kr. S. 103. 2) Kr. S. 106, 166, 53. ^) Kr. S. 105 flf.

so würde bei uns vom Denken nicht die Rede «ein können und unsere Resultate wären so gut wie nichts. Unser Vor- haben wlirde in sich selbst zerfallen. Jeglicher AVidcrspruch wider die Denkgesetze ist mit dem Irrthume gleich l)cdeutend. Oder, die Kehrseite dieses Verhältnisses hervorzuheben: an der Uebereinstimmung unserer Gedanken mit denselben er- kennen wir zum ersten ihre Wahrheit. Sie sind also Kri- terien, Erkennungszeichen der Wahrheit. 0 So weit reicht die praktische Tragweite der formalen Denklehre, dass sie nicht nur Wahrheit und Irrthum zu verbannen vermag, son- dern auch dazu befähigt, Wahrheit zu erkennen. So be- sitzen wir in dem sogenannten Satze des Widerspruches ein allgemein giltiges, völlig ausreichendes Princip alles ana- lytischen Erkennens.'^) Was diesen Kriterien der Wahrheit widerspricht oder gemäss ist, ist schon deswegen falsch oder wahr, weil der Verstand dabei seinen allgemeinen Regeln des Denkens, mithin sich selbst widerstreitet oder treu bleibt.3)

Hier reden wir allein von der formalen Wahrheit. Man hat nämlich auch bei ihr Form und Inhalt wohl zu unter- scheiden'^). Die formale Wahrheit besteht in der Ueberein- stimmung der Erkenntniss mit den formalen Denkgesetzen, die materiale Wahrheit in der Uebereinstimmung der Er- kenntnisse mit ihren Gegenständen, ein höchst bemerkungs- würdiger Unterschied, der verhängnissvoll wird, wenn man ihn nichtachtet. Zwar ist im Gebiete der formalen Wahr- heit auch Irrthum und Schein möglich. Man denke an die Trugschlüsse, welche die Vernunftform nur nachahmen. Indess die Schuld daran trägt nur der Mangel rn x\ufmerk- samkeit auf die logische Regel. Man darf sie nur schärfen, dann verschwindet der Irrthum.^) Denn keine Kraft der Natur, wie ja die Deukkraft des Menschen eine ist, kann von selbst von ihren eigenen Gesetzen abweichen.^) Also der Werth der logischen, formalen Wahrheit bleibt unan- tastbar.

1) Kr. S. 106. 2) s. 178. 3) g. loc. «) S. 105 u. 106. *) S. 292. 6) S. 290.

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Aber man scheidet eben nicht immer den Inhalt der Erkenntniss von ihrer blossen Form. Man hält formale Wahrheiten für reale. Da verkehrt sich die logische Wahr- heit sofort in Irrthum und Liig-e. Es leidet ja keinen Zweifel, wenn einmal die allgemeine, formale Logik nur die Gedanken formen in Betracht zieht und ausdrücklich alle Berücksichtigung des mannigfaltigen Inhaltes ablehnt, so reicht ihre ßefugniss, über Wahrheit und Irrthum zu ent- scheiden, nicht über die Grenzen des formalen Denkens hinaus in das Gebiet sachlicher Erkenntnisse. Ihre Regeln werden somit nur negative Bedingungen der Wahrheit, ihre conditio sine qua non enthalten; positiv d. h. inhaltlich und sachlich tragen sie zur Vermehrung unserer Erkenntnisse nichts bei. Als Kennzeichen der Wahrheit sind sie nicht zugleich Bestimmungsgründe ^) für sie. 2) Logisch darf ich alle möglichen Merkmale zu Begriffen zusammenreimen, kann mir eine Figur von nur zwei Seiten gebildet denken^), eine Welt ohne den Causalzusammenhang zwischen den einzelnen Dingen. . Ob es in der Anschauung, in der Wirk- lichkeit den Gedanken entsprechende Gegenstände giebt, bleibt dennoch äusserst zweifelhaft. Man darf logisch alle möglichen Begriffe zu Urtheilen verbinden, die sich nicht wie a und non a widersprechen; nur soll man nicht hoffen, dass ihre Gegenstände in der Wirklichkeit mit einander verbunden sind. Ein Urtheil kann auf diese Weise von allem inneren Widerspruche frei und nichtsdestoweniger falsch oder grundlos sein.'^) Der Satz des Widerspruches, nach welchem keinem Dinge ein Prädicat zukommt, w^elches ihm widerspricht, gilt nur, falls man auf den sachlichen In- halt der Erkenntniss nicht rcflectirt, sondern allein auf ihre Form. In dieser Beschränkung ist er ein Grundsatz in der formalen Logik, ausserhalb derselben ohne Fug und Recht.^) Die Elemente der formalen Verstandes- und Vernunftthätig- keit stellt die allgemeine Logik als Principien aller logischen Beurtheilung unserer Erkenntniss dar.^) Gleichwohl darf

') Kr. S. 178. 2) s, 100 flf. 3) s, 231. ^) S. 177 f. ^) S. 178. 6) S. Iü6.

man luis der Uebereinstlmniung unserer Erkenntniss mit den Gesetzen des Verstandes und der Vermmlt, der torma- len Wahrheit, keinerlei Folgerun^^en herleiten w(»llen für ihre Uebereinstimmung' mit ihrem Gegenstande, die mate- riale Wahrheit.') Letztere besitzt nicht einmal für sich selbst ein allgemeines Kennzeichen. Denn ein solches würde sich selbst widersprechen.'-)

Wenn nun Jemand, ohne sich vorher eine j;enauc Kennt- niss von den Dingen durch Erüihrung erworben zu haben, schon darin den Beweis der vollen und ganzen Wahrheit seiner Behauptungen geliefert zu haben meint, dass er sie nur aus logischen Mitteln bewiesen, so hat er sich getäuscht. Und derjenige, welcher den Besitz formaler Wahrheit aus- nutzt zum Beweise der Wahrheit sachlicher Erkenntnisse, giebt Schein für Wahrheit aus und treibt Blendwerk. Eine solche zweideutige Kunst ist Sophistik. Es liegt viel Ver- leitendes in ihrem Besitze. Um ihrer gefährlichen Folgen willen ist sie wichtig genug, in der allgemeinen Logik be- sonders behandelt und in ihrer Blosse und Nichtigkeit auf- gedeckt zu werden. So entsteht ein neuer Theil neben der »Analytik: die Dialektik, die Logik des Scheins.'^) Die Analytik wiederum zerfällt in die Lehre vom Be- ■; griffe, von den Urtheilen und von den Schlüssen.'*) Unsere Erkenntniss nämlich, sagt Kant, hebt von den Sinnen an, geht von da zum Verstände und endigt bei der Vernunft.^) Der Verstand ist hier in weiterem Sinne gefasst; er begreift den Verstand im engeren Sinne, nämlich das Vermögen der Begriffe, und die Urtheilskraft in sich. Diese beiden bilden mit der Vernunft die drei oberen Erkenntnissvermögen des Menschen. Mit dieser Eintheilung, sagt nun Kant, trift't die Eintheilung der allgemeinen Logik ganz genau zusammen. Sie handelt in ihrem ersten Haupttheile von den Functionen des Verstandes, den Begriffen, zweitens der Ordnung jener Gemüthskräfte ganz entsprechend von den Func- tionen der Urtheilskraft, den Urtheilen, drittens von denen der Vernunft, den Schlüssen.*^)

') Kr. S. 105. 2) s. 106. 3) S. 107 f. *) S. 164. ^) S. 294. ^ S. 164.

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A. Die Lehre von den Begriffen.

Alle unsere Erkenntniss ist eine Erkenntniss durch Begriffe, nicht intuitiv (Erkenntniss durch Anschauung), sondern discur- siv. Was hat man unter diesen Begriffen zu verstehen? Der Be- griff beruht zunächst nicht auf einer Aifection, wie die sinnliche Anschauung. Das heisst: er entsteht nicht unmittelbar durch einen Eindruck auf unsere Sinne, den wir durch die Ein- wirkung etwa eines Gegenstandes ausser uns erleiden , so meinen es die Sensualisten. Sondern er beruht auf einer Function. Unter Function versteht Kant eine in sich einige Handlung, wodurch verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen geordnet werden. Während die An- schauungen auf unsere Empfänglichkeit gegen Eindrücke von Aussen sich gründen, sind die Begriffe demnach die Ergebnisse des Denkens als einer spontan wirkenden Thä- tigkeit des Geistes. Die Begriffe wären danach diejenigen vom Verstände gestifteten Ordnungen oder Verhältnisse der gegebenen Vorstellungen unter einander, wonach verschie- dene Vorstellungen immer unter einer entsprechenden ge- meinschaftlichen Vorstellung zusammengefasst sind. In dem Begriffe ist ebendasselbe Bewusstsein als in vielen Vor- stellungen enthalten anzutreffen, d. h. im Begriffe, der ge- meinsamen Vorstellung, stellt man sich die Identität des Bewusstseins in den mannigfaltigen und verschiedenen Vor- stellungen selbst vor.i) Der Begriff' gilt somit für viele Vorstellungen. Er enthält die Merkmale, die vielen Vor- stellungen gemeinsam angehören. Von den verschiedenen und ungleichen Merkmalen hat man in ihm abstrahirt. Daraus folgt, dass sich unsere Begriffe nimmermehr auf die Dinge, die sie betreffen, unmittelbar beziehen. Nur in den Anschauungen, Einzelvorstellungen berühren wir uns mit den auf uns wirkenden Dingen. Wenn keine Einzelvorstel- lung, indem sie in den Begrilf aufgenommen wird, unange- tastet bleibt, nur das ihr mit anderen Einzelvorstellungen Gemeinsame in den Begriff übergeht, ihre Besonderheit wie ein incommensurabler Rest zurückbleibt: so entspricht einer

0 Kr. S. 142 Anm.

I

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derartigen verstandeHmfissif^cn Vcrl)iiidunp; kein einzige» DiiigJ) Darum sind alle J^cgriflc lecr'^), wenn nic^lit die Wirklichkeit dessen, was sie meinen, andcrweiti«^ nach;^e-

> wiesen worden ist. Von jeglicher Hcschatl'cnheit ilirer In- halte, ja sogar von dem Dasein ihnen entsprechender Dinge ist in ihnen gar nichts ausgesagt, wären sie auch noch so vollständig gebildet, dass nicht das Mindeste daran er- ^ mangelte. Man darf daher nach Kant nur sagen : alle sci- iP tens der formalen Logik richtig gebildeten Begrifte sind mög- lich, nicht; wirklich. Die Wahrnehmung, welche den Stotf zum Begriöe hergiebt, ist der einzige Charakter der Wirk- lichkeit.3)

Alle BegriiFe insgesammt werden durch drei logische Principien beherrscht: durch das Princip der Homogeneität, der Specification und der Continuität oder Affinität. Nach dem ersten bilden alle Begriife zusammen eine einzige, all- gemeine Gattung. Alle Begriffe enthalten ein einziges Ge- meinsames, welches sie zu einer inneren Einheit verbindet. Dies Princip der Einheit ist jedoch nicht denknothwendig; es besteht für uns nur als Thatsache. Sein völliges Gegen- theil wäre ebensogut denkbar. Neben dem Princip der ■L Gattung und ihm gegenüber steht das Princip der Spe- ^ cification, der Arten. Ungeachtet der Uebereiustimmung der Begriife unter derselben Gattung geht es auf die Mannig- faltigkeit und Verschiedenheit derselben. Die Gattung ent- hält danach verschiedene Arten, die Arten wieder verschie- dene Unterarten und so fort, unbestimmt, wie weit. Denn auch ein letzter, äusserster Begriff wäre, weil verschiedenen Dingen gemeinsam, unbestimmt, also noch immer bestimmbar. Durch das erste Princip entsteht eine Einheit von Begriffen, ein System; wenn man aber von der Gattung anhebend zu dem Mannigfaltigen, welches darunter enthalten ist, herab- steigt so weit als möglich, so verschafft man dem Systeme Ausbreitung. Letzteres erzeugt die niederen Begriffe. Olme die niederen gäbe es keine höheren Begriffe, ohne Einzelheit keine Allgemeinheit. Doch wie ist es möglich, von der Ver-

0 Kr. S. 112f. 2) s. 100. 3) s. 234.

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schiedenlieit zur Gleicluirtig-kcit, von der Einzelheit zur All- gemeinheit zu gelangen? Nicht ohne das dritte Princip der Affinität der Begriffe. Es bedingt einen ununterbrochenen Uebergang von einer jeden Art von Begriffen zu der anderen durch stufenweises Wachsen der Verschiedenheit der Be- griffe. Durch alle Grade der erweiterten Bestimmung hin- durch stammen sie von einer einzigen, obersten Gattung ab. Daher ist alles Mannigfaltige untereinander zugleich verwandt. Auch die beiden letzteren Principien haben die Thatsäch- lichkeit und keinen andern Grund zur factischen Geltung für sich.O

B. Die Lehre von den Urtheilen.

Jedes Urtheil enthält zunächst einen Begriff, der wie gesagt für viele Vorstellungen gilt und unter diesen mannigfaltigen Vor- stellungen auch für eine gegebene. Die gegebene Vorstellung wird im Urtheile durch den Begriff voigestellt. Jene tritt als das Subject auf, dieser als das Prädicat. Was bedeutet eine derar- tige Vorstellung von einer Vorstellung? In Bezug auf ihren Gegenstand eine Erkenntniss desselben. Denn die Verbindung von einem Begriffe und einer Einzelvorstellung trifft von Seiten der letzteren den Gegenstand selbst, so dass ihn der Verstand begreift. Die Erkenntniss desselben ist jedoch keine un- mittelbare, sondern eine mittelbare, weil andrerseits im Prä- dicate auch, statt einer unmitfelbar auf ihn gerichteten Vorstellung eine höhere, welche ausser dieser mehrere andere - unter sich begreift und nie auf einen Gegenstand unmittelbar geht, ein Begriff* zur Erkenntniss des betreffenden Gegen- standes gebraucht wird. Das Urtheil ist mithin die mittelbare Erkenntniss eines Gegenstandes. Der Begriff' allein ist noch keine Erkenntniss; erst das Urtheil verwandelt gegebene Vor- stellungen in Erkenntnisse von Objecten. Kant erläutert dies durch das Beispiel: alle Körper sind theilbar. Der Begriff der 'l'heilbarkeit lässt sich auf verschiedene Gegenstände anwen- den; solche sind auch die Körper. Der Begriff' „Körper" ist in diesem Falle die gegebene Vorstellung. Er bezieht sich einerseits

') Kr. S. 511flF.

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wiederum auf eine Menge uns vorkommender lOrselicinungen. Alle diese unzähligen Gegenstände werden durch den l>egrifi* „Tbeilharkeit" mittelbar vorgestellt. Kant folgert hieraus die Bedeutung des llrtheils mit Rücksicht auf die dabei ange- wendete Denkform. Viele Gegenstände werden durch Kinen begriff vorgestellt und dadurch viele mögliche Erkenntnisse, besser Vorstellungen, in eine zusammengezogen, llrtheilen beisst demnach viele Vorstellungen in eine zusammenziehen. Das Urthcil ist eine Verbindung mehrerer \'orstellungen in einer einzigen, eine Ordnung unter denselben, und wenn eine geordnete Verbindung Einheit beisst, so ist es kurz eine Einheit von Vorstellungen. Begriffe sind nur ein fertiger Besitz des Verstandes, das Verbinden der Vorstellungen eine Handlung. Daher erklärt Kant das Urtheil als eine Func- tion der Einheit unter mehreren Vorstellungen d. h. als ein Verbinden von mehreren Vorstellungen zu einer in sich ab- geschlossenen Einbeit. ^) Die zur Einheit mit einander ver- bundenen Vorstellungen sind jedoch nicht blos Begriffe. Kant tadelt in einem anderen Zusammenhange '^) die Erklä- rung des Urtbeils als eines Verhältnisses von Begriffen. Diese Definition wäre zu eng. Urtheile selbst werden in ähnlicher Weise einheitlich mit einander verbunden, so in den hypo- thetischen und disjunctiven Urtheilen.

So lange nicht angegeben ist, von w^em und wo man sich die Verbindung von Vorstellungen beim Urtheilen voll- zogen denken soll, bleibt noch ein grobes Missverständuiss möglich. Nämlich nicht allein der Verstand, auch die repro- ductive Einbildungskraft bewirkt nach Gesetzen, nach den Gesetzen der Association eine Vereinigung von Vorstellungen. Letztere hat mit jener oben auseinandergesetzten so wenig gemein, dass sie des logischen Characters vollständig ent- behrt. Ein Beispiel möge dies beweisen. Wenn man einen Körper trägt, so erleidet man einen Druck und muss nach den Gesetzen der Einbildungkraft sagen: wenn ich einen Körper trage, so fühle ich einen Druck der Schwere; zu der Aussage: „der Körper ist schwer" hat man kein Recht.

1) Kr. S. 112 u. 113. 2) s. 145^ § 19.

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Daran lässt sich nichts ändern, auch wenn das Tragen des Körpers noch so oft wiederholt würde. Solche Verbindung von Vorstellungen besteht nur während der Wahrnehmung des Druckes der Schwere vermöge der sensiblen Nerven; sie ist eine rein subjective und das Ganze ein psychologischer Vorgang. Der Verstand muss zwei oder mehrere Vor- stellungen verbunden haben, wenn ihre Vereinigung ein Ur- theil ausmachen soll. Sein Thun hat einen ganz andern Sinn. Er verlegt die Vereinigung der Vorstellung in ihr Object. „Der Körper ist schwer^' lautet die Aussage des urtheilenden Verstandes, der Körper an sich, ganz abgesehen davon, ob er von einem Subjecte getragen wird oder nicht, ob man seine Schwere wahrnimmt oder nicht. Die Ver- bindung ist eine objective. Die logische Function der Ur- theile besteht darin, dass in ihnen der Verstand das Mannig- faltige gegebener Vorstellungen (Anschauungen oder Begrifie) unter eine Apperception, zu einem Bewusstsein überhaupt bringt ^). Der Verstand verbindet die Vorstellungen in dem Be- wusstsein kraft seiner eignen Einheit. Die Einheit des Verstandes ist eine noth wendige, also auch seine Vereinigung von Vorstellungen; eine empirische Anschauung kann nicht auf nothwendige Weise verbinden. Die Einheit der Vor- stellungen im Urtheile ist sonach eine objectiv gültige, noth- wendige. Eine solche muss jene psychologische Einheit, nach welcher VorstelluDgen blos zusammen sind, werden, wenn sie zugleich eine logische, nach welcher sie zusammengehören, sein will. Sprachlich finden wir das logische Verhältniss der Begriffe inUrtheilen durch die Copula „ist" ausgedrückt 2), welche nur^) die vom Verstände vollzogene objective Ver- bindung der Vorstellungen anzeigt und nicht noch ein Prä- dicat obenein ist, das einen neuen Begriff enthielte, der mit dem Subject- und Prädicatbegriffe auf gleicher Linie stehend zu ihnen noch hinzukäme.

Gegenstand eines Urtheils nun kann alles Denkbare werden. Alle Begriffe sind Prädicate zu Urtheilen, deren Subject nur noch unbestimmt ist 4); zum logischen Prädicate

'} Kr. S. 146, § 20. =) g. 145 f. 3) S. 480. *) S. 113.

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kann alles dienen, was man will, so^ar das Subjeet kann von sich selbst prädicirt werden '). Subjeet hinwiederum wird auch alles ohne Ausnahme werden können. Dieser Umstand, möchte ich, um auf Späteres schon hinzuweisen, im kantischen Sinne hinzufügen, verallgemeinert und erwei- tert theils den Gebrauch der Urtheilsformen, theils schwächt er, sucht man durch Urtheile Erkenntnisse, bedeutend ihren Werth. Gemäss dem allgemeinen Gesetze der allgemeinen Logik, dass sich die Gedanken unter einander nicht wider- sprechen dürfen, ist hier jede Verbindung aller möglichen Vorstellungen seitens des Verstandes erlaubt, wofern nur Subjeet und Prädicat von vornherein keinen inneren Wider- spruch in sich tragen. Ein solcher entstünde zum Bei- spiel 2), wenn man in einem identischen Urtheile durch die Negation das Prädicat aufhebt und das Subjeet, wie es ist, behält. So etwas darf in einem Urtheile nicht vorkommen. Die Behauj^tung ginge freilich zu weit: es sei ein Wider- spruch, sammt dem Subjecte das Prädicat aufzuheben. Wo- gegen sollte sich dieser Widerspruch richten? Es ist ja nichts mehr vorhanden. Oder etwa gegen die Wirklichkeit ? Dem blos logisch Keflectirenden kommt es aber gar nicht darauf an, ob sich die Gegenstände der beim Urtheile im Objecte verbunden gedachten Vorstellungen in Wirklichkeit verbunden vorfinden. Also bedingt die gleichzeitige Auf- hebung von Subjeet und Prädicat keinen Widerspruch. Denn die logische Thätigkeit des Verstandes bleibt dabei mit seinen eigenen Gesetzen in Uebereinstimmung. Das ist das Entscheidende; darin liegt, zum Theil wenigstens, die Bürg- schaft, dass wir durch das Urtheileu zur Erkenntniss der Wahrheit gelangen. Wahrheit und Schein sind nämlich nicht im Gegenstande, sofern er von uns augeschaut wird, sondern gerade im Urtheile über denselben, sofern er gedacht wird. Die Sinne irren nicht, meint Kant im Gegensatz gegen empirische Skeptiker, wie Hume, aber nicht, weil sie alle Zeit richtig urtheileu, sondern weil sie gar nicht ur- theileu. Daher treffen wir Wahrheit, wie Irrthum und Schein

0 Kr. S. 480. 2-) s, 477 u, f.

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nur im Urtheile d. h. im Verhältnisse des Gegenstandes zu unserem Verstände an. Der Irrthum entsteht durch einen unbemerkten Einfluss der Sinnlichkeit auf den Ver- stand. Der Verstand allein irrt also auch nicht 9- Denn er kann von seinen eigenen Gesetzen nicht abweichen. In logisch richtig gebildeten Urtheilen werden wir daher mit Recht Wahrheit suchen dürfen, unbedingte Nothwendigkeit 2). Die allgemeine Logik steht aber nur für die Richtigkeit der Form der Urtheile ein. Die in ihnen verbundenen Begriffe bilden ihr Material, ihren Inhalt. Dann bleibt als Form übrig die Art und Weise ihrer Verknüpfung. Die Wahrheit und unbedingte Nothwendigkeit der Urtheile, die wir hier zu erwarten haben, beschränkt sich folglich auf diese formale Natur der Urtheile 2). Dürfen nun alle möglichen Begriffe von uns mit einander verbunden werden, so wird, mag die Erfahrung Fälle von realen Verbindungen aufweisen, so viel sie will, das formale Denken es an sich nie fehlen lassen. Weil aber dasselbe alle Begriffe ohne Unterschied mit ein- ander vereinigt, so liegt umgekehrt der Verdacht der Täu- schung auf dem Gebiete der Erfahrungen von Seiten des Denkens um so näher, je öfter man bereits Begriffe in Wirk- lichkeit nicht verbunden, ihre Gegenstände einander sogar widerstreitend gefunden hat, trotzdem ihre Verbindung die Logik gestattet. Jener Vorzug formaler Vollkommen- heit hat diesen Mangel an realer Vollkommenheit zur Be- gleitung.

Die Art und Weise der Begriffsverbindung oder die „Einheit"'^), die analytische (d. h. vermittelst der Ana- lysis gefundene) Einheit der Begriffe im Urtheil ist nicht immer dieselbe. Die Urtheile sind nicht nur inhaltlich, sondern auch formal von einander verschieden. Eine genaue und vollständige Bestimmung der verschiedenen Urtheils- formen müsste, wenn sie möglich wäre, für die Erkenntniss- lehre von der höchsten Wichtigkeit sein. Man lernte die Thatsache kennen, wie immer der Verstand bei der Ver- bindung eines Mannigfaltigen gegebener Vorstellungen ver-

»)Kr. S.290. 2)S.477. 3) s. 113.

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fährt. Die all<,^nieiiic Lo^^^ik ist im Stande, HüinnitlicLe Ur- tlieilsfornien aufzustellen.

Man kann bei ilirer Darstellung auf Viererlei sein Au«^en- merk richten: entweder auf das Subject allein, oder auf das Prädikat allein, oder auf das Verhältniss zwischen Sub- ject und Prädikat, oder auf das \'erhältni8s beider zur menschlichen Erkenntniss. Mehr Gesichtspunkte iür die Betrachtung- der Urthcilsfornien »^iebt es nicht.

Von allem Inhalte soll ab<^esehen werden. Was bleibt bei der ausschliesslichen Betrachtung des Subjectes dann noch übrig- als der Umfang des Begriffes? Den Umfang eines Begriffes nennt man logisch seine Grösse. In An- sehung ihrer ist der Begriff entweder ein allgemeiner oder ein besonderer oder ein einzelner. Wenn er ein allgemeiner oder ein einzelner ist, so gilt das Prädicat von dem ganzen Inhalte, den er bezeichnet. Rein '^logisch würden deshalb diese beiden Urtheilsformen nicht zu unterscheiden sein. Allein ihr Erkenntnisswerth ist verschieden. Die allgemei- nen Urtheile liefern mehr Erkenntniss als die einzelneu. Darum, sagt Kant, mag auch die Logik ihre Auseinander- haltung zulassen und jeder, der einen als allgemeiner Ur- theilsform, der anderen als einzelner, in einer vollständigen Tafel aller Momente des Denkens überhaupt eine besondere Stelle einräumen. Anders verhält es sich, wenn der Sub- jectsbegriff ein besonderer ist. Hier gilt das Prädicat nicht von allen Gegenständen, die er überhaupt meint, sondern nur von einem Theile derselben. Diese Urtheilsformen, be- sondere genannt, machen gewiss eine eigene Classe aus. So haben wir vorläufig unter dem Titel: Quantität der Ur- theile — allgemeine, besondere, einzelne.*)

Es fällt in die Augen, dass dem Begriffe der Grösse ein höherer Werth zugemessen werden muss als den Be- griffen, welche das Material der in Rede stehenden Urtheile bilden. Er ist es, welcher gegebene Vorstellungen zur Urtheilsform mit einander verbindet, zur Einheit verknüpft, welcher also das Urtheil begründet. Er ist die (analytische)

») Kr. S. lUu.f.

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Einheit oder der Grundbegriff im Urtlieile. In ilim beruht das Wesen solcher Urtheile. In ihm offenbart sich die Thätigkeit des urtheilenden Verstandes, wird seine Natur blossgelegt. (Ich möchte die Namen „analytische Einheits- begriöe" oder „GrrundbegriÖe" für diese Begriffe als noch rein logische durchweg festhalten, die Namen „Stammbegrift", Kategorie" sollen zur Bezeichnung ihrer metaphysischen und transscendentalen Natur aufbehalten bleiben.) Der Be- griff der Grösse kommt in den drei Urtheilsformen in drei- fach verschiedener Weise zum Ausdruck: im allgemeinen Urtheile als der der Allheit, im besonderen als der der Vielheit, im einzelnen als der der Einheit. Die drei Func- tionen der Einheit in den Urtheilen oder Grundbegriffe der ersten Art, der Quantität, sind demnach: Einheit, Vielheit, Allheit.1)

Der Prädicatsbegriff sagt immer eine Beschaffenheit des Subjectsbegriffes aus. Insofern redet man von den Urtheilen der Beschaffenheit oder Qualität. Es steht jetzt nicht die Beschaffenheit des Subjectes ihrem Inhalte nach in Frage. Man meint die Verhältnisse, nach welchen eine gewisse Be- schaffenheit oder Eigenschaft, Zustand, Thätigkeit einem Subjecte zugesprochen oder abgesprochen wird. Im ersten Falle bejaht man etwas, im zweiten verneint man. Die Urtheile sind daher theils affirmative, theils negative. Das Prädicat an sich kann wieder ein bejahtes oder verneintes sein, ein b oder ein non-b sein, eine für die Zwecke der formalen Logik überflüssige Unterscheidung. Denn es ist dieselbe Handlung, wenn ich ein bejahtes oder in diesem Sinne verneintes Prädicat dem Subjecte zuspreche, in jedem Falle eine Bejahung. Mit Rücksicht auf etwaige erkenntniss- theoretische Folgerungen, meint Kant, dürfte trotzdem die Logik diese Unterscheidung annehmen. Es erscheint, und dies dient zur Rechtfertigung, die Erkenntniss im Prädikats- begriffe nach dem Schema non-b in ihrer Unendlichkeit durch die vermittelst der Negation vollzogene Aulhebung der Gil- tigkeit Einer Qualität eingeschränkt. Mithin dürften wol

') Kr. S. 121 u. f.

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diese einscli rankenden oder liniitativen Urtheilc aln eine neue, dritte Urtheilsweise neben jenen l)ejalienden oder affirmativen und verneinenden unter dem 'J'itel: iieschatren- lieit oder Qualität der Urtheile genannt werden.')

Aus ihnen lassen sich mit Leichti'^kcit die Grund- begrifte herausheben: 1. Realität aus den bejahenden Ur- theilen, 2) Negation aus den verneinenden, 3) Limitation aus den beschränkenden. Sie machen die zweite Or- dnung der Grundbegriti'e als Arten der Qualität aus. 2)

Ferner: Beim Urtheilen setzt man entweder den Prädi- catsbeg'rifi' in ein bestimmtes Verhältniss zum Subjectsbegriffe, oder es bilden zwei Urtheile ein Verhältniss, so dass ein Urtheil aus dem anderen folgt, oder zwei und mehrere Ur- theile, die alle irgend eine Erkeuntniss ausmachen. In ein- fachen Urtheilen heissen die Verhältnisse von Subject und Prädicat kategorische Urtheilsformen. Ein Verhältniss der zweiten Art enthält zwei Sätze. Ob beide an sich wahr seien, bleibt unausgemacht. Es ist nur die Consequenz, die Folge eines Urtheils aus einem anderen, die durch dieses Urtheil gedacht wird. Beispiel: wenn eine vollkommene Gerechtigkeit da ist, so wird der beharrlich Böse bestraft. Ein Urtheil der Art ist hypothetisch. Die zur dritten Klasse gehörigen sind die disjunctiven. Mehrere Sätze bilden eine geordnete Einheit, aber nicht mehr nach dem Gesetze der Abfolge, sondern der logischen Entgegensetzung, sofern die Sphäre des einen die des anderen ausschliesst, und zu- gleich der Gemeinschaft, sofern sie zusammen die Sphäre der eigentlichen Erkenntniss ausfüllen. Ein Beispiel möge die logische Wechselwirkung der einzelnen Glieder einer Erkenntniss vor Augen führen : Die Welt ist entweder durch einen blinden Zufall da oder durch innere Nothwendigkeit oder durch eine äussere Ursache. Ob sie an sich wahr seien, entscheidet das Urtheil nicht. Die Rücksicht, welche diese Betrachtungen veranlasst, ist die Relation der Ur- theile. 3)

Die Analyse des kategorischen Urtheils führt zu den

0 Kr. S. 115 u. f. ^) S. 121. 3) Kr. S. 116 u. f.

2*

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aDalytischeii EinheitsbegrifFen: Inliaerenz und Subsistenz (substantia et aecideiis)^ die des hypothetischen Urtheils zu den Grundbegriften : Causalität und Dependenz (Ursache und Wirkung), die des disjunctiven liefert die Relation der Gemeinschaft (Wechselwirkung zwischen Handelnden und Leidenden). 1)

Endlich giebt es problematische, assertorische und apo- dictische Urtheile. Sie sind es, welche ein verschieden ge- artetes Verhältniss eines der bisher genannten Urtheile zum 1 Erkenntnissvermögen anzeigen. Zu dem Inhalte des Ur- theils, soll heissen der Urtheilsform, tragen sie nichts mehr bei; der ist durch die Quantität, Qualität und Relation be- reits vollständig bestimmt. In den problematischen Urthei- len nimmt man das Bejahen oder Verneinen als möglich an, d. h. man hat freie Wahl darüber. Die hypothetischen und disjunctiven Urtheile sind unter Anderen problematische. Das assertorische redet von logischer Wirklichkeit oder Wahrheit. Das apodictische drückt logische Nothwendig- keit aus. So wird hier alles gradweise dem Verstände einverleibt. Die Functionen der Modalität unter diesem Gesichtspunkte stehen jetzt die Urtheile können eben so viele besondere Denkformen genannt werden.^)

Ihre Grundbegritfe sind beziehungsweise: die Möglich- keit oder Unmöglichkeit; das Dasein oder Nichtdasein; die Noth wendigkeit oder Zufälligkeit: Alles besondere Fälle der Modalität.^)

C. Die Lehre von den Schlüssen.

Den Stoff der Anschauung zu bearbeiten und unter die höchste Einheit des Denkens zu bringen, ist die Aufgabe der Vernunft. Ihre Thätigkeit ist, wie die des Verstandes, eine zweifache: eine formale und eine reale. Nach der letzteren bringt sie gewisse Grundsätze hervor, die sie weder den Sinnen, noch dem Verstände entlehnt, sondern aus sich selbst schöpft.

Uns beschäftigt allein die formale Vernunftthätigkeit. Als solche ist sie von den Logikern als das Vermögen,

») Kr. S. 121. 2) Kr. S. 117 u. f. ^) Kr. S. 121.

1

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mittelbar zu schliossen, erklflrt worden; aber nach Kant zu eng-. Sein crkenntnif^stlieorctiHclies InteresHc fordert eine weitere Definition. Verstand, SMgt er, ist ein Vermögen der Regeln, die Vernunft ein Vermögen der Principien. Eine Erkenntniss aus Principien ist diejenige, in welcher das be- sondere aus dem Allgemeinen erkannt wird. Was ist ein Vernunftschluss Anderes als die Form der Ableitung einer Erkenntniss aus einem Principe? Die Grundsätze des Ver- standes sind ihrem Ursprünge nach keine Erkenntnisse aus Begriffen. Sie würden ohne Anschauung, wie es später auf Grund der logischen Voraussetzungen nachgewiesen werden soll, nicht einmal a priori möglich sein. Synthetische Er- kenntnisse aus Begriffen vermag daher der Verstand nicht aufzubringen. Das sind aber die Principien. Die Vernunft bringt sie hervor. Wie der Verstand formal das Mannig- faltige gegebener Vorstellungen nach gewissen Regeln ver- einigt, so bringt formal die Vernunft in die Regeln des Ver- standes Einheit unter Principien. i)

Die der Vernunft eigenthümliche Form der Denkthätig- keit ist der Schluss. Bei jedem Schlüsse liegt ein Satz zu Grunde. Daran knüpft sich ein zweiter, die Folgerung, die aus jenem gezogen wird. Die Schlussfolge endlich ver- knüpft die Wahrheit des letzteren unausbleiblich mit der Wahrheit des ersteren. Ohne Vermittelung eines dritten Urtheils kann man auch ein Urtheil aus einem anderen folgern. Diese Form nennt man einen Verstandesschluss. Wenn aber noch ein drittes Urtheil nöthig ist, um eine Folge mit ihrem allgemeinen Grunde zu vermitteln, so heisst der Schluss erst dann ein Vernunftschluss. Da w^ird denn zuerst eine Regel (die praemissa major) vermöge der Thä- tigkeit des Verstandes gedacht, unter diese Regel als ihre Bedingung eine Erkenntniss vermöge der Urtheilskraft sub- sumirt und schliesslich bestimme ich meine Erkenntniss d. h. das Subject der zweiten Prämisse (der praemissa minor) durch das Prädikat der ersten Prämisse, mithin a priori, ohne Nachweis aus der Erfahrung, vermöge der Vernunft.

0 Kr. S. 294 ii. fit'.

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Das Ergebniss der Folgerung eines besonderen Urtheils aus einem allgemeinen ist der Schlusssatz (die conclusio). ^)

Wie man sieht, ordnet die Vernunft Begriffe und Ur- theile. Die Sinnlichkeit mit ihren Anschauungen und Einzel- vorstellungen ist hier ausgeschlossen. Geht die Vernunft auf Gegenstände, so geschieht dies durch Vermittelung des Verstandes und seiner Urtheile, die sich unmittelbar an die Erscheinungen wenden. Die Vernunfteinheit unterscheidet sich dadurch wesentlich von der Verstandeseinheit, der Ein- heit einer möglichen Erfahrung. Noch mehr, das Trachten der Vernunft richtet sich auf das Unbedingte. Die Ver- nunft, logisch thätig, sucht für ihr im Schlusssatze ausge- sprochenes Urtheil eine allgemeine Bedingung, die sie als erste Prämisse an die Spitze des ganzen Schlusses stellt. Für dieses allgemeine Urtheil sucht sie zu seiner Begrün- dung ein noch allgemeineres durch den sogenannten Pro- syllogismus. Dieses Verfahren ist sie bereit fortzusetzen, so weit es immer angeht, um zu dem bedingten Erkenntnisse des Verstandes das Unbedingte zu finden. Denn, wenn dies gelänge, wäre eine Erkenntniss vollkommen abgeschlossen, wenigstens der Form nach. 2)

Wie der Verstand der Form nach verschiedene Thätig- keiten der Verbindung ausübt, so auch die Vernunft. Die Form der Vernunftschlüsse ist dreifach. Es giebt katego- rische, hypothetische und disjunctive Schlüsse.-^) Vielleicht werden diese drei Formen drei Vernunftbegriffe verrathen.

II.

Der zweite Theil des ersten Haupttheiles der Kritik der reinen Vernunft, der weitaus umfangreichste Abschnitt der gesammten Kritik, führt den Namen transscendeutale Logik. Schon die Wahl dieses Namens wird den Leser be- deuten, in welchem organischen Zusammenhange mit der Logik übcrhaui)t er sich diese Untersuchungen denken soll. Die Meinung Kant's geht bestimmter aus Aeusserungen her-

') Kr. S. 296 u. t. ^) Kr. S. 299 u. f. 3) S. 297 u. f.

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vor wie: man inCisse aus dem Verfolge gewisser Unter- suchinig'cn erwarten, ob wirklicli in der Wirksamkeit der Vernunft eine Verwandtschaft von der Art als zwischen dem logischen und transcendentalen Verfahren insgeheim zu Grunde liege ^); ferner: die synthetische Einheit der Ap- perception sei der Verstand selbst, von ihr hänge aller Ver- standesgebrauch ab, selbst die ganze Logik und nach ihr die Transcendentalphilosophie."-^) Gewiss ist es in letzter Rücksicht derselbe Gegenstand, der lieide Wissenschaften l)eschäftigt : das Denken, nur dass die transcendentale Logik das Denken in seiner Verbindung mit seinem Gegenstande, also das Erkennen kritisirt. So fragt sie nach dem Ur- sprünge, dem Umfange und der Wahrlicit der Erkenntniss. Inwieweit nun Kant seiner Meinung über die Abhängigkeit derselben von der allgemeinen Logik einen wissenschaftlichen xAiUsdruck gegeben, soll in Folgendem dargethan werden.

Kant legt oft auf Aeusserlichkeiten viel Gewicht. Darum will ich auch die äussere Einrichtung des Werkes kurz berühren. Die Eintheilung der transcendentalen Logik in Analytik und Dialektik ^) stimmt mit der der allgemeinen Logik überein. Die Art des wissenschaftlichen Verfahrens» im ersten Theile jener Logik ist ebenfalls eine Zergliede- rung, zwar nicht mehr der ßegritfe in Rücksicht auf ihren Inhalt zur Verdeutlichung desselben, das gewöhnliche Ver- fahren in philosophischen Untersuchungen; sondern eine Zergliederung des Vermögens der BegriÖb selbst, des Ver- standes, welchem reine Begriffe ursprünglich einwohnen.^) Wie demnach die Analytik der allgemeinen Logik die for- malen Gesetze des Verstandes entwickelt, ohne die gar kein Denken stattfinden kann, so trägt diese Analytik die Prin- cipien vor, ohne welche überhaupt kein Gegenstand gedacht werden kann, und sie ist gleichf^ills eine Logik der Wahrheit.'^)

Die transscendentale Logik hat auch ihre Dialektik, eine Logik des Scheins ^^). Sie dient zur Abwehr des Scheins

') Kr. S.320. 2) s. 140 Anm. •'') Kr. S. 108. *) S. Uo u. f. 5) Kr. S. 108.

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der Wahrheit, welcher entstellt, wenn man von formalen Priucipien des Verstandes einen materialen Gebrauch macht in der irrthümlichen Verwechselung des Erkennens mit dem Denken. Die in der allgemeinen Logik übliche Dialektik beabsichtigt den Schein der Wahrheit bei der blossen Nach- ahmung der Denkformen zu enthüllen und zai vernichten. Dies ist möglich. Der transscendentale Schein indessen kann nur aufgedeckt, niemals vernichtet werden. Er ist und bleibt eine unvermeidliche Illusion. Dem Astronomen wie dem Laien erscheint der Mond beim Aufgange grösser; aber jener lässt sich dadurch nicht täuschen. In gleicher Lage befindet sich der Transscendental])hilosoph. Die lo- gische und transscendentale Dialektik gehen in ihrem Erfolge weit auseinander. 1)

Mit dieser Eintheilung der trauF^scendentalen Logik kreuzt sich eine zweite nach der Reihenfolge und den Func- tionen der drei oberen Erkenntnissvermögen. Sie behandelt in ihrer Analytik den Verstand und die Begriffe, darauf die ürtheilskraft und die Urtheile oder Grundsätze, in der Dia- lektik die Vernunft mit ihren Schlüssen. Sie folgt darin der allgemeinen Logik, wo man jedoch die Schlüsse der Vernunft in der Analytik abhandelt.^)

Nun zur Sache selbst. Wie bemerkt, ist die transscen- dentale Analytik in ihrem ersten Theile der Aufsuchung der dem Verstände ursprünglich eigenen, reinen Begriffe ge- widmet. Die allgemeine Logik dient dabei als Führer: sie ist der Leitfaden bei der Entdeckung der Verstandes- begriffe.^;

Um ihre Aufgabe in ihrer vollen Bedeutung zu ver- stehen, muss man sich den Zusammenhang der kritischen Untersuchungen vergegenwärtigen. Wir empfangen durch das Vermögen der Sinnlichkeit oder das Anschauungsvermö- gen von Aussen eine Menge der verschiedenartigsten Ein- drücke seitens der ihnen etwa correspondirenden Gegen- stände — aber, und das ist eine der Grundanschauungen Kant's, ungeordnet. Die Herstellung der Ordnung und Ein-

•) S. 292 u. 293. •) Kr. S. 164 u. f. =^) S. 1 1 1.

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licit in den Enipfindunj]:«!! ist das Werk des Menschon, wo- zu iliin die Siiiidiclikcit die ersten Bcdin;^Mn*ren erfüllt. Die Kälii^'kcit dazu besitzt sie von vornlierein in den beiden Formen der Anschauung; Raum und Zeit. In diesellien fallen die Eindrücke und empfani^en eine Form. Derartige geformte Eindrücke oder Empfindungen nennt Kant An- schauungen oder Einzelvorstellungen. Ihre eigenthündiche Natur bestellt in ihrer Unmittelbarkeit gegenüber den Ge- genständen und in ihrer Einzelheit i/n Verhältnisse unter- einander. Nach ihrem Ursprünge beruhen sie auf der Em- pfänglichkeit unseres Gemüthes. Die Sinnlichkeit ist also kein thätiges Vermögen, sondern sie verhält sich leidend. Alles dies geschieht im Vorhofe unseres Bewusstseins. Die Anschauungen sind blind. Damit wir ihrer bewusst wer- den, ist die Mithilfe eines zweiten Vermögens vonnöthen. Es fasst das Mannigfaltige der Anschauungen, die ein- zelnen unmittelbaren Vorstellungen wiederum zusammen und verbindet sie, es denkt die Anschauungen. Dieses von jenem der Art nach (nicht bloss nach dem Grade: so Leil)- nitz, Locke, Berkley, Hume) verschiedene Vermögen ist der Verstand, seinem Wesen nach ein thätiges Vermögen. Auch er bedarf zur Ausübung seiner Thätigkeit der Werkzeuge. Das sind die synthetischen Einheitsbegriftc, die reinen Be- griffe, welche die Anschauungen umspannend sie begreifen, verbinden, ordnen. Wie die Sinnlichkeit nur vermöge der beiden Anschauungsformen Eindrücke erhält, so denkt der Verstand mittels der ihm angehörigen Begriffe. Es hiesse deshalb auf die Ergründung des gesammten Erkenntniss- vorganges, auf alle Gewissheit in unserer vermeintlichen Erkenntniss der Wahrheit verzichten müssen , dem öden Skepticismus preisgegeben sein , wenn man diese Stamm- begriffe nicht fände!

Zwar schon seit Aristoteles hat man in der Philosophie von ihnen geredet, meint Kant. Aber woher sollen sie denn stammen? Welches ist ihre wahre Bedeutung? Welches ist die Bedingung ihres Gebrauches i) ? Sind sie Alle ent-

0 Kr. S. 120. 2) pr. g. gl. (v. Kirchmauu).

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deckt? Sind die genannten alle auch wirklich Verstandes- begriffe ? *) Aristoteles liat sich diese Fragen nicht vorgelegt. Er hat seine zehn Kategorien : Substanz, Eigenschaft, Grösse, Verhältniss, Handlung, Leiden, Wenn, Wo, Lage, Zustand aufgerafft, wie sie ihm aufstiessen. Die Begriffe: Wann Wo, Lage sind als zur Anschauung gehörige gar keine Ver- standesbegriffc. An anderen fehlt es gänzlich i). Ebenso- wenig hat man nach Aristoteles nach ihrem Ursprünge im menschlichen Verstände, nach ihrer sachlichen Gültigkeit gefragt, noch sie dies geht uns hier vornehmlich an nach einem bestimmten Principe aufgesucht und geordnet, man 2) hat sie bei mehrerer Aufklärung der Philosophie als ganz unnütz verworfen. Jene Fragen wollen insgesammt genau beantwortet sein, man müsste denn eine Rhapsodie-^) für Wissenschaft ansehen oder auszugeben beabsichtigen. Kant nimmt den Ruhm, in dieser Frage zuerst ein wissen- schaftliches Verfahren eingeschlagen zu haben, für sich in Anspruch. Er beruht wesentlich mit auf seinem Einfalle, die Erkenntnisstheorie zu ihrem Theile auf die allgemeine Logik zu stützen.

Die Kategorien das ist der neue Gedanke Kant's treffen als metaphysische Begriffe mit jenen allgemeinen Functionen des Denkens, d. h. den analytischen Einheitsbe- griffen, den Grundbegriffen, völlig zusammen '^).

Die Anzahl der Kategorien zunächst ist gleich der Zahl jener Grundbegriffe. Es giebt deren zwölf, also auch zwölf Kategorien. Denn die Grundbegriffe sind aus dem Urtheilen und zwar derjenigen Verstandeshandlung abgeleitet, die alle übrigen in sich enthält und sich nur durch verschiedene Modificationen, das Mannigfaltige der Vorstellung unter die Einheit des Denkens überhaupt zu bringen, in zwölf ver- schiedene Urtheilsformen besondert 5). Die formale Logik führt damit alle nur möglichen, verschiedenen Urtheilsformen auf, in welchen sich allezeit unserer Gedanken Lauf bewegt ß). Demnach haben wir in den zwölf, den Grundbegriffen

') Kr. S. 122. Pr. S. 80. ^) Pr. S. 80. '') Pr. S. 80. *) Kr. S. 157 § 26. 5) Pr. 80 u. f. «) Kr. S. 113.

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gleiclicn Kategorien alle mögliclicn Stainnihcgritte des Ver- standes vor uns. Man fragt vielleicht: warum giebt en nur zwölf und nicht mehr oder weniger? Diese Frage muHS als ebenso unl(')sl)ar zurückgewiesen werden wie die, warum es gerade nur zwölf Urtheilsfornien giebt ^).

In einem Hauptstücke der Transscendentalj)hih>sophie der Alten findet sich ein Satz: quodlibet ens est unum, verum, bonum. Danach sollten noch die drei Kategorien: (qualita- tive) Einheit, Wahrheit, Vollkommenheit hinzugezählt werden. Das darf aber nicht geschehen, aus dem Grunde, weil sie logische Erfordernisse und Kriterien aller Erkenntniss der Dinge überhaupt, allgemeine Regeln der Uebereinstimmung der Erkenntniss mit sich selbst 2) sind. Ebensowenig sind die sogenannten Reflexionsbegriffe: Einerleiheit, Verschiedenheit, Materie, Form u. s. w. Kategorien, sondern erweisen sich auf gegebene Vorstellungen sich beziehend als rein logische Begriffe ^).

Eingangs der transscendentalen Analytik hatte Kant unter Anderem die Forderung aufgestellt: die Tafel der Elementar- begriffe oder Kategorien müsse vollstängig sein und sie müssen das ganze Feld des reinen Verstandes gänzlich aus- füllen. Von aller Sinnlichkeit gänzlich abgesondert sei er eine für sich selbst beständige, sich selbst genügsame und durch keine äusserlicb hinzukommende Zusätze zu ver- mehrende Einheit. Die Vollständigkeit einer Wissenschaft aber kann nicht auf den Ueberschlag eines bloss durch \'er- suche zu Stande gebrachten Aggregats liin mit Zuverlässigkeit angenommen werden. Sie ist nur vermittelst einer Idee des Ganzen der Verstandeserkentniss a priori und durch eine bestimmte Ordnung ihrer Begriffe, mithin durch ihren Zusammenhang in einem Systeme möglich. Der Inbegriff einer Erkenntniss wird dann ein unter einer Idee zu be- fassendes und zu bestimmendes System ausmachen, dessen Vollständigkeit und Gliederung zugleich einen Probirstein der Richtigkeit und Aechtheit aller in sie hineinpassenden Erkenntnissstücke abgeben kann ^). Was dort Kant gefordert,

») Kr. S. 148. § 21. 2) Kr. S. 126 u. f. ^) Kr. S. 268 ff. Pr. S. 84. *) Kr. S. HO.

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ist hier geleistet: die Idee des Ganzen der Verstandeser- kentniss ist die Tafel der zwölf Grundbegnife. Durch die Ordnung der Grundbegriffe wird die Aufstellung der Ele- mentarbegriffe systematisirt. Nun darf die Tafel der Kate- gorien als ein Probirsteiu aller Wahrheit angesehen werden.

Welches ist die wahre innere Bedeutung der Kategorien? Ihrer Natur nach enthalten sie nichts als die logische Thätigkeit, das Mannigfaltige unter einen Begriff zu bringen i), oder kurz: die Kategorien sind jene Grundbegriffe der ürtheilsformen. Wie bei den letzteren von allem Inhalte abstrahirt worden, so sind auch die Verstandesbe- griffe blosse denk- oder Gedankenformen 2). Siebezeichnen die Arten, einen Gegenstand überhaupt zu denken ^). Es wird durch sie nur das Denken eines Objectes überhaupt nach verschiedenen Modis ausgedrückt 4). Auch inhaltlich stimmen sie mit den Grundbegriffen überein. Das Wesen der letzteren Formen besteht in der Verbindung mehrerer Vorstellungen zu einer Einheit. Die Kategorien sind eben- falls Begriffe der Einheit 5). Die Grundbegriffe geben den verschiedenen Vorstellungen in einem Urtheile, die Kategorien den verschiedenen Vorstellungen in einer Anschauung Einheit : beide dienen der geordneten Verbindung von Vorstellungen; sie enthalten beide nichts von Anschauung, sind urtheilende, nicht vorstellende Begriffe ß). Die synthetischen Einheiten des Verstandes sind die analytischen Einheiten der Ürtheils- formen. Auch hier wäre die Frage ungereimt: warum es diese Art Verstandesbegriffe giebt und keine andere? Wer will nachweisen, warum es gerade die so gearteten zwölf Ürtheilsformen giebt? Niemand vermag es; ebensowenig ist Jemand im Stande, jene Frage zu beantworten '').

Fragen wir endlich nach dem Ursprünge der Kategorien, so ist die Kenntniss desselben durch die völlige „Zusammen- treffung" mit den allgemeinen logischen Functionen des Denkens gesichert. Die Kategorien sind a priori (zur Natur

') Kr. S. 255 Anm. f. 2) Kr. S. 151 , 259. 3) Kr. S. 256 Anm. *) Kr. S. 257. 0) Kr. S. 147. § 21. «) Kr. S. 120. '') Kr. S. 148. § 21.

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des Menschen geliörig) wie die Grund bc^nilTe als lo^'ischo Formen ').

Doch Eine Wandlung;' erfahren die Grundhe^^ritVe, indem sie zu Verstandesbegrillcn werden. Ein licispiel Kant's möge vorerst einen Mangel an den Grundbcij^rillen auf'zei;,'en. Es heisse ein Urtheil: alle Köri)er sind theilbar. Eh ist ein kategorisches Urtheil, in welchem das Prädikat auf da» Subject bezogen wird. Seine Grundbegritte sind: die Sub- stanz und das Accidens. Das Urtheil kann man ohne Wei- teres umkehren und sagen: alles Theilbare ist ein Körper. Logisch darf man sowohl den Begriff ,, Körper'' als auch den Begriff „Theilbar" einmal als Su])ject, dann als Prä- dikat brauchen. Man sieht es keinem von beiden an, welciier immer als Subject und welcher nur als Prädikat gebraucht werden soll. Der Grundbegrifi: Substanz bezeichnet nur etwas, das ohne Ausnahme Subject ist 2), Subject kann logisch alles werden, also auch der Begriff des Theilbaren. Sonach ist das logische Urtheil unbestimmt, zweideutig. Dagegen bezeichnet der Verstandesbegriff Substanz etwas, was in der Anschauung ausschliesslich als Subject, nie als Prädikat vorkommt. Wenn ich nun den Begriff eines Körpers darunter bringe, wird durch ihn bestimmt, dass seine empirische Anschauung in der Erfahrung immer nur als Subject, niemals als blosses Prädicat betrachtet werden müsse. Darum muss ich jetzt urtheilen: alle Körper sind theilbar, nicht umgekehrt. Nun ist das Urtheil bestimmt, bestimmt nicht durch seine Grundbegriffe, sondern durch seine Kategorien. Und das bewirken alle Kategorien ■^). Wie ist das möglich? Die logischen Urtheilsformeu sind in Rücksicht alles Objectiven unbestimmt; denn die formale Logik abstrahirt von allem Inhalte. Sie gelten demnach als in sich selbst abgeschlossen. Als Kategorie erhält der Grundbegriff eine Beziehung auf ein Etwas, dessen ganze Bestimmung gemäss den Grundsätzen aller Logik darin aufgeht, für die Denkform Object zu sein. „Ich bezog endlich, sagt Kant^), diese Functionen zu urtheilen auf

') Kr. S. 157. § 20. ') Kr. S. 254. ^) Kr S. 137. 3) Kr. S. 81.

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übjecte überhaupt, oder vielmehr auf die Bediugung, Urtheile als objcctiv-g'ültig zu bestimmen, und es entsprangen reine Vei Staudesbegriffe." Zum Wesen eines reinen Verstandes- begriffes gehört mithin noch seine Beziehung auf ein Object. Das ist dem Verstände die Anschauung. Wenn die logische Form Erkeuntnissform werden soll, muss sie die Möglichkeit einer Beziehung auf die Anschauung empfangen. Sie bringt sie nicht schon mit sich, sondern sie liegt in der Natur des die Anschauungen vermöge einer sie auf- und zusammen- fassenden (synthetischen) Einheit ^ verbindenden Verstandes. Davon kann in der allgemeinen Logik nicht die Rede sein. Hier ist die Grenze, wo der Einfluss der formalen Logik aufhört und die transscendentale ihren Acker mit eigenen Mitteln bestellt.

Der Eintracht beider Wissenschaften geschieht dabei kein Abbruch. Es ist derselbe Verstand, welcher einmal Vorstellungen in der Anschauung, und dann Vorstellungen in den Urtheilen mit einander verbindet; beides sind die- selben Handlungen. Die Verbindung der Anschauungen geht bloss in der Wirklichkeit voraus; durch sie, die wesentlich synthetisch ist, werden überhaupt erst Vorstellungen in dem Bewus^tsein züsammengefasst. Die logische Handlung, auf der analytischen Einheit beruhend, löst das so ursprünglich Verbundene auf, um es noch einmal, sei es in Form von Begriffen oder Urtheilen oder Schlüssen, zu verbinden i). So beruht letztere auf der ersteren als ihrem Grunde.

Eine ihrer ersten Pflichten sieht die kritische Philo- sophie in der Bestimmung der Bedingungen, unter welchen die Kategorien bei der Speculation gebraucht werden sollen. Auch sie lassen sich aus der allgemeinen Logik herleiten 2). Nehmen wir den Begriff* der Erkenntniss zu Hilfe. Der Zweck eines Werkzeuges giebt am sichersten Anweisung für seinen Gebrauch. Der Zweck der Kategorien ist die Erkenntniss. Zu ihr gehören immer zwei Stücke: erstens der Begriff oder die Kategorie, wodurch überhaupt ein Gegenstand gedacht wird, und zweitens die Anschauung,

1

») Kr. S. 12U. '') Pr. S.81.

i

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wodurch er dem hegreifeiulen V^erstande j^e^cbcn wird >j. Ist es niöglifii, dass' iium durch die Kiite'::()rie allein etwa« erkennt V Was erkennt man durch die Kategorie, was nicht? Ueber die Leistungsfähigkeit des Mittels der Er- kenntniss giebt nun die formale Logik zur Genüge Auf- sclüuss. Als logische Denk form enthält die Kategorie keine Spiir von Anschauung oder Vorstellung'-). Sie hat keine Beziehung auf ein bestimmtes Object in sich ^). Sie ist ohne objective Realität^). Dns zweite nothwendige Er- forderniss zur Eikenutniss bleibt also unerfüllt. Daraus folgt, dass man mit der Kategorie allein nichts ei kennt. Die Anschauung erst befähigt die Kategorie zur Anwendung auf die Gegenstände, giel)t ihr objective Realität^). Man erkennt daher mit ihr diejenigen Gegenstände, welche die Anschauung ihr darbietet. Denn die Anschauung ihrerseits enthält Erscheinungen, welche als Data zu einem möglichen Erkenntnisse mit der Kategorie schon a priori in Beziehung und Einstimmung stehen müssen ^). Und diese Gegenstände erkennen wir mit Gewissheit und Sicherheit. Hier ist das Land der Wahrheit, ein reizender Name'). Diejenigen Gegenstände aber, von denen wir in der Anschauung durch unsere Sinne nichts wahrnehmen, erkennen wir nicht. Der Verstand kann aus sich keine Verstandeswesen erzeugen. Denn Begrifte ohne correspondirende Anschauung wären Ge- danken der Form nach, ohne allen Gegenstand s). Hiermit ist im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit und den Zweck der Kategorie ihr Standpunkt genau fixirt. In Ihrem Ge- brauche hat man sich danach zu richten, dann erfüllt man die Bedingungen desselben.

Von hier aus setzt sich Kant mit den tonangebenden philosophischen Richtungen seiner Zeit kritisch auseinander. Die dogmatischen Metaphysiker, Leibnitz >oran, haben in einseitiger Verkennung der Grenzen, die man im Gebrauche der Kategorien zu beachten hat, mit ihnen allein eine Welt des Uebersinnlichen, der Ver Jandeswesen, der Nooumeua

1) Kr. S. 148. §22. ^) S. 255 Anm. t- ') S. 253. *) S. 150. 5) S. 151 § 24. 6) s. 250. ■) S. 249. ») S. 149.

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aufgebaut. Sie haben die Wissenschaften einer rationalen Psychologie, einer Kosmologie, einer Theologie geführt. Der Grundfehler, den sie begangen, liegt in ihrer unbefangenen Identificirung der beiden Begriffe Denken und Erkennen. Kant leugnet daher derartige Wih^senschaften.

Zum Angriffe gegen die Sensu allsten, welche den Werth der sinnliehen Anschauung für die Erkenntniss wieder über- schätzend allein auf Grund sinnlicher Wahrnehmungen die Dinge zu erkennen vermeinen, benutzt Kant auch die formale Logik. Den positiven Begriff eines Nooumenons, wonach er ein jenseits der Sinnen weit wirklich existirendes Ver- standeswesen bezeichnet, hat er nach seinen Voraussetzungen wenigstens unmöglich gemacht. Doch behält er ihn bei, indem er ihm einen anderen Sinn unterlegt. Er überträgt ihn auf Dinge, die nicht Object unserer sinnlichen Anschauung sind und ein besonderes Gebiet des Verstandes einnehmen, wohin die sinnliche Anschauung nicht reicht. Er tritt alsdann als Grenzbegriff' auf, um die Anmassungeu der Sinnlichkeit einzuschränken i). Weil er nur von nega- tivem Gebrauche ist, heisst er Nooumenon in negativer Be- deutung 2). Wenn man alles Denken aus einer empirischen Er- kenntniss wegnimmt, so bleibt gar keine Erkenntniss eines Gegenstandes übrig. Lässt man aber alle Anschauungen weg, so bleibt doch noch die Form des Denkens. Daher erstrecken sich die Kategorien insofern weiter als die sinn- liche Anschauung, weil sie Objecte überhaupt denken, ohne noch auf die besondere Art der Sinnlichkeit zu sehen, in der sie gegeben werden mögen. Sie bestimmen daher eine grössere Sphäre von Gegenständen ^). Sie haben im Denken ein unbegrenztes Feld^). Der Begriff' eines Noou- menons enthält keinen Widerspruch 5). Daher bestätigt ihn die allgemeine Logik. In der Schrift : von der falschen Spitz- findigkeit der vier syllogistischen Figuren, hatte Kant bereits die Ursprünglichkeit, Selbstständigkeit, den Artunterschied des logischen Erkenntnissvermögens von der Sinnlichkeit ge-

0 Kr. S. 264. ^) S. 262. ^) Kr. S. 363. *) Kr. S. 162 Anm. ^) Kr. S. 264.

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lehrt: hier tritt unser GnindHatz in weine volle Bedeu- tung ein.

Das zweite Buch der Analytik handelt von der trans- scendentalen Urtheilskraft. Es ist das VerhältnisH anzugeben, welches zwischen ihm und dem bezüglichen 'Ihcile der all- gemeinen Logik stattfindet. Der A'erstand überhaupt ist ein Vermögen der Regeln, das Wort „Regel" braucht Kant oft als Wechselbegrift* für Kategorie. Die Urtheilskraft ist das Vermögen, die Regeln anzuwenden, unter sie zu subsumiren, eine bestimmte Anschauung dem reinen Verstandesbegritfe einzuordnen. Die allgemeine Logik beschreibt die Formen der in ürtheilen ausgedrückten Gedanken und stellt sie als nothwendig zu befolgende Regeln für die Praxis des Denkens hin. Sie giebt Anweisung, wie formal ein Urtheil beschaflen sein soll; welchen Inhalt es haben soll, lässt sie, auch von dem allgemeinsten Inhalte abstrahirend, unentschieden. "Wollte man dennoch wissen, ob eine ihrer Formen auf einen ge- gebenen Inhalt anzuwenden sei, so würde es zur Entscheidung ihrer Anwendung oder Nichtanwendung einer Regel bedürfen, deren richtige Anwendung wieder nur durch die Beobach- tung einer neuen Regel gesichert wäre. Mit einem Worte: die Urtheilskraft kann von Seiten der allgemeinen Logik keine Vorschriften erhalten. Sie ist ein Talent, welches, unfähig Lehre anzunehmen, von Anfang an vorhanden sein muss und dann nur geübt sein will. Ganz das Gegentheil nehmen wir bei der transscendentalen Urtheilskraft wahr. Hier kommt es gerade darauf an, zur Anwendung einer Regel, eines Verstandesbegriffcs, ehe wir irgend eine Er- fahrung machen können, den Fall anzuzeigen, wo sie statt- haben soll. Das ist die eigenthümliche Aufgabe dieses Theiles der transscendentalen Logik. Sie ist derselben mächtig, weil sich die reinen Verstandesbegritfe a priori auf einen Inhalt, wenn auch der allgemeinsten Art, beziehen. Der Erfahrung steht hier keine Entscheidung zu. Wir sind also hier wieder an die Grenze gekommen, wo die directe Einwir- kung der allgemeinen Logik auf die transscendentale aufhört »j.

») Kr. S. 1G5 u. If.

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Doch lohnt es, den betretenen Weg weiter zu verfolgen. In allen Subsumtionen eines Gegenstandes unter einen ße- gritV, sagt Kant, muss die Vorstellung des ersteren mit dem letzteren gleichartig sein i). So sind die in einem logischen Urtheile mit einander verbundenen Allgemein- und Einzel- vorstellungen ihrer Form als Vorstellungen nach mit ein- ander verwandt. Worin sind aber die allgemeinen und apriorischen Verstandesbegiiffe und die bestimmten, empirisch gegebenen Anschauungen gleichartig? In Nichts; sie bilden miteinander einen vollständigen Gegensatz, so dass keine Subsumtion möglich wäre, wenn nicht etwa ein Drittes, das mit dem Einen und dem Anderen in gewissen Rücksichten übereinstimmte, zwischen den beiden Gegen- sätzen die geforderte Verbindung herstellt. Ein solches Ver- mittelungsglied giebt es, es ist die Zeit, (wie die Kategorie allgemein und apriorisch und ausserdem als in jeder em- pirischen Vorstellung oder Erscheinung enthalten der An- schauung gleichgeartet). Die Zeit erhebt Kant daher zum „Schema" der Verstandesbegritfe, durch dessen Vermittelung allein der reine Verstandesbegriff auf die in der Anschau- ung gegebenen Gegenstände angewendet werden kann. Er bildet daraus eine neue Art ven Begriffen, die Zeitbestim- mungen. Sie werden nach der Tafel der Kategorien ge- ordnet und eingetheilt in Zeitbestimmungen der Zeitreihe (Zahl), des Zcitinhalts (Realität in der Zeit), der Zeitordnung (Beharrlichkeit des Realen u. s. w.), des Zeitinbegriffes (Wirklichkeit etc. 2).

Erst in dieser Einkleidung der reinen, allgemeinen Er kenntnissformen in die kosmologische Form der Zeit hält sie Kant zur factischen Erkenntniss der in der Anschauung dem Menschen gegebenen Gegenstände geschickt. So werden sie „realisirt." Ihre Ergänzung durch das transscendentale Schema der Zeit ist eine nothwendige Folge der völligen Verallgemeinerung der Kategorien zu logischen Formen. Letztere wiederum ist durch die Ableitung der Kategorien aus den logischen Denkformen in den Urtheilen bedingt.

U Kr. S. 168. '') S. 168 u. ff.

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Darum hat man den Schematismus der reinen Verntandes- begriftc als eine noth wendige, aber nur mittelbare Folge- rung aus den logischen Voraussetzungen der Vernunftkritik anzusehen; wie überhaupt alle, die innerlich begründeten und die nur äusserlich gemachten Bestimnmngen innerhalb des ganzen Systemes der kritischen Philosophie auf Grund oder nach der Richtschnur der Tafel der Kategorien als in höherem oder geringerem Grade mittelbare Folgen des Ein- flusses der allgemeinen Logik zu betrachten sind.

Einige Beispiele mögen veranschaulichen, welche Rolle die Kategorien in dem Folgenden spielen. Alle Erschei- nungen zusammengenommen machen die Sinnenwelt aus. Sie, ein blosses Erzeugniss der Sinnlichkeit, stellt sich ge- mäss den psychologischen Voraussetzungen Kant's als eine Summe von Erscheinungen dar, als ein unendliches Mannigfal- tiges atomistischer Einzelheiten. Der Verstand ist es, welcher aus der Sinnenwelt die Natur bildet. Er bringt in die un- .geordnete Masse der Erscheinungen Ordnung und gesetz- mässigen Zusammenhang. Dies geschieht vermöge der Kate- gorien. Mithin ist die Natur durch den Verstand und seine Formen bedingt. Der Verstand schreibt der Natur ihre Gesetze vor,i) lautet der bekannte Ausspruch Kant's. Denn als blosse Vorstellungen stehen die Erscheinungen unter gar keinen anderen Gesetzen der Verknüpfung als denjenigen, welche das verknüpfende Vermögen vorschreibt. Die Er- scheinungen existiren an sich nicht, sondern nur relativ, in Bezug auf das Wesen, welches Sinne hat. Dinge an sich mögen ihre Gesetze ausserhalb eines erkennenden Verstandes haben. Sie sind uns aber unzugänglich und gänzlich unbe- kannt; wir wissen nur von Erscheinungen. Für diese aber sind die Verstandesformen Gesetze so gut wie die An- schauungsforraen.2) Die Verstandesbegriffe gehen ihm über in Naturbegriffe. Der Verstand findet ihre Gesetze in sich selbst: er erkennt in seinen eigenen Gesetzen die Gesetze der Natur. V^ährend Kant die Metaphysik des Uebersinn-

») Pr. S.76. 2) Kr^ S. 160 u. 161.

3*

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liehen leugnet, lässt er sonach die reine Naturwissenschaft bestehen, er be-'-riindet sie vielniebr von Neuem.

Die Grundziige der kantischeu Naturpliilosophie finden wir in seiner Tafel der Grundsätze. Es sollen alles syn- thetische Urtheile sein, nicht analytische. Letztere, bei denen der Prädicatsbegriff im Subjectsbegriff schon enthalten ist und im Prädicat nur besonders herausgesetzt wird, ent- halten keine Erweiterung, bloss eine Verdeutlichung der Erkenntniss. In den synthetischen Urtheilen übrigens eine Unterscheidung, welche die allgemeine Logik nicht macht, die nicht einmal die Namen dieser Urtheilsformen kennen darf geht man im Prädicat über den Subjects- begriff hinaus und setzt mit ihm etwas schlechthin Neues in Verbindung, sie dienen zur Erweiterung der Erkennt- niss. i) Kant stellt nach den vier Titeln der Kategorien viererlei synthetische Urtheile als Grundsätze der Natur- wissenschaft auf, nnd nur solche Grundsätze, welche von den Kategorien abgeleitet werden können. Die äussere Anor- dnung und Reihenfolge hängt ebenfalls von der Ordnung der Kategorien ab. Innerhalb der Grundsätze selbst erscheinen sie in ihrer Verquickung mit dem Schema, wie folgt:

1) Axiom der Anschauung:

Alle Anschauungen sind extensive Grössen.

2) Anticipation der Wahrnehmung:

In allen Erscheinungen hat das Reale, was ein Ge- genstand der Empfindung tst, intensive Grösse, d. i. einen Grad.

3) Analogien der Erfahrung:

Erfahrung ist nur durch die Vorstellung einer noth- wendigen Verknüpfung der Wahrnehmungen mög- lich.

A. Bei allem Wechsel der Erscheinungen beharrt die Substanz, und das Quantum derselben wird in der Natur weder vermehrt noch vermindert.

B. Alle Veränderungen geschehen nach dem Gesetze der Verknüpfung der Ursache und Wirkung.

') Kr. S. 180.

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C. Alle Substanzen, sofern sie im Kaume als zugleich wahrgenoninicn werden können, sind in diircligängiger Wechselwirkung-.

Diese drei Analogien der Erfahrung sind nichts Anderes als Grundsätze der l^estininiung des Daseins der Krschei- nungen in der Zeit, nach allen drei Modis derselben, dem Verhältnisse zu der Zeit selbst, als einer Grösse (die Grösse des Daseins d. 1 Dauer), dem Verhältnisse in der Zeit, als einer Reihe (nach einander), endlich auch in ihr, als einem Inbegriife ihres Daseins (zugleich). 4) Die Postulate des empirischen Denkens überhaupt:

a. Was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung

(der Anschauung und dem Begriö'e nach) über- einkommt, ist möglich.

b. Was mit den materialen Bedingungen der Erfah-

rung (der Empfindung) zusammenhängt, ist wirklich.

c. Dessen Zusammenhang mit dem Wirklichen nach

allgemeinen Bedingungen der Erfahrung bestimmt ist, ist (existirt) nothwendig."

Welches sind denn nun aber die Gründe, aus welchen sich Kant berechtigt hält, die Verstandesbegriffe aus den analytischen Einheitsbegriffen herzuleiten? Er behauptet: es ist dasselbe Vermögen, derselbe Verstand, welcher die Vorstellungen eint, einmal die Vorstellungen in einem Ur- theile, dann die Vorstellungen in einer Anschauung. Ferner ist es immer dieselbe Weise der Handlung, welche der Verstand ausübt: die 1 unction der Einheit. Im logischen Urtheile verbindet der Verstand vermittelst der analytischen Einheiten das Mannigfaltige der Vorstellungen, in der An- schauung vermittelst der synthetischen Einheiten. „Auf diese Weise" entspringen gerade so viel reine Verstandes- begriffe, als es analytische Einheiten oder logische Urtheils- formen giebt.i)

Die Entdeckung der Kategorien in den Grundbegriffen giebt Kant den Fingerzeig für seine weiteren Forschungen

0 Kr. S. J20f.

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in der transscendentalen Dialektik. ^Nachdem ich den Ur- sprung der Kategorien , sagt er i) , in den vier logischen Functionen aller Urtheile des Verstandes gefunden hatte, so war es ganz natürlich, den Ursprung der Ideen in den drei Functionen der Vernunftschlüsse zu suchen. Wenn man sie nicht für angeboren halten wolle, müsse man sie in derjeni- gen Vernunfthandlung aufsuchen, die den logischen Charakter der Vernunftschlüsse bildet.' Die Vernunftschlüsse hatte Kant in kategorische, hypothetische und disjunctive einge- theilt. In den kategorischen findet er die Idee eines voll- ständigen Subjectes, eines Substantiale, in den hypothetischen die Idee einer vollständigen Reihe der Bedingungen, in den disjunctiven die Idee eines vollständigen Inbegriffs des Mög- lichen. Die erste Idee ist psychologisch, die zweite kosmo- logisch, die dritte theologisch. Daher die Eintheilung der gesammten Dialektik in Psychologie, Kosmologie und Theo- logie. Das Vermögen der Vernunft ist hiermit vollständig erschöpft. Es giebt keine weiteren Ideen, als diese drei. In den Systemen der Metaphysik früherer und seiner Zeit hat man die Vernunftideen mit den Verstandesbegriffen ohne Unterschied durcheinanderlaufen lassen, als gehörten sie wie Geschwister zu einer Familie. Diese Vermengung hätte auch niemals vermieden werden können. Er selbst sei erst durch seinen Begriff der Kategorien dahin geführt worden, in den Vernunftideen ein ganz anderes Wesen zu erkennen. Nach diesem habe er denn die so nothwendige Absonderung der Verstandesbegriffe von denen der Vernunft vollziehen können.^)

Welches ist das Wesen der Ideen? Die Erkenntniss der Seele als einer einfachen Substanz trägt zur Erklärung der psychologischen Erscheinungen nichts bei, auch nicht die Erkenntniss des Weltanfanges und der Ewigkeit zur Erklärung der Begebenheiten und Ereignisse innerhalb der Welt. Die Ideen leisten für die Erfahrung nicht dasselbe wie die Kategorien, welche die Erfahrung gerade möglich machen. Wenn nun jene über den Erfahrungsgebrauch

0 Pr. S. 88, § 43. ^) Pr. S. 84.

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hinaiis^angcu und diese allein für die Hrfalinm;:, wie rn feststellt, -igelten, so würde ein Widerspnicli zwischon lieidcn vorzuliegen scheinen. In unserer Natur darf aber kein Wider- spruch obwalten. Die Vernunft nuiss zur Vollendung deH Verstandes beitrag'en. Zwar dadurch wird die Vernunft nicht dem Widersj)ruche ausweichen, dass sie Ideen für vollkommene Wesen, die etwa ausserhalb des Erfahrun^s- gebietes existirten, hervorbrächte. Sondern die Sache ver- hält sich so: jede einzelne Erfahrung ist nur ein Theil von der ganzen Sphäre der Erfahrung. Das absolute Ganze aller möglichen Erfahrung, welches man sieh sehr wohl denken kann und nicht erdichtet ist, ist selbst für die Er- fahrung unzugänglich. Zur Vorstellung des Ganzen der Er- fahrung reicht keine Kategorie aus. Da tritt denn zur Be- zeichnung desselben die Idee ein. Die Ideen drücken das vollkommen und unbedingt aus, was die Kategorien nur bruchstückweise, discursiv leisten. Nicht als ob die Idee thatsächlich alle Anschauungen von Gegenständen dem ideenreichen Subjecte darböte, sondern es ist die Vollstän- digkeit ihrer Principien gemeint. i) So ist die Vernunft das Vermögen der Einheit der Verstandesregeln wie der Ver- stand ein Vermögen der Einheit der Erscheinungen vermit- telst der Regeln. Denn der Verstand macht für die Xer- nunft ebenso einen Gegenstand aus w^e die Sinnlichkeit für den Verstand.2) Die logische Thätigkeit der Vernunft er- streckte sich auf die Begriffe und Uitheile des logisch re- flectirenden Verstandes : ihre transscendentale richtet sich auf die Kategorien des Verstandes. In ihrer logischen Thätig- keit neigte sie dem Unbedingten zu: in ihrer trausscendcn- talen strebt sie gleicherweise nach dem Unendlichen.

In den Paralogismen der reinen Vernunft unterwirft Kant die rationale Psychologie seiner Kritik. Er stellt eine Topik der Seelenlehre auf, woraus alles Uebrige, was sie enthält, abgeleitet werden müsse. Sie ist der Kategorien- tafel nachgebildet. Die Kategorie der Substanz macht aus- nahmsweise den Anfang, weil dadurch ein Ding an sich

») Fr. S.Ol. 2) Kr. S. 526, 511.

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selbst, hier die Seele, Überhaupt erst vorgestellt wird, um seine Prädicate zu erhalten. Sie lautet folgendermassen :

1) Die Seele ist Substanz. 2) Ihrer Qualität nach ein- fach. 3) Den verschiedenen Zeiten nach, in welchen sie da ist, numerisch-identisch, d. i. Einheit (nicht Vielheit). 4) Im Verhältnisse zu möglichen Gegenständen im Räume. i)

Kosmologische Ideen giebt es auch nur vier nach den vier Titeln der Kategorien:

1) Die absolute Vollständigkeit der Zusammensetzung des gegebenen Ganzen aller Erscheinungen. Die absolute Vollständigkeit der Theilung eines gegebenen Ganzen in der Erscheinung. 3) Die absolute Vollständigkeit der Ent- stehung einer Erscheinung überhaupt. 4) Die absolute Voll- ständigkeit der Abhängigkeit des Daseins des Veränderlichen in der Erscheinung.^)

Die Vernunftprincipien der Homogeneität, der Specifica- tion und der Continuität, welche nicht gemäss platoni- scher, dogmatischer Denkweise das System der Dinge, sondern das System unserer Erkenntnisse gemäss den kri- tischen Grundsätzen liefern, betrachtet Kant als Voraus- setzungen, die man um der gleichnamigen logischen Prin- cipien willen machen müsse.

Mit welcher Befugniss verlangt die Vernunft in ihrer logischen Thätigkeit, dass man in der Mannigfaltigkeit der Kräfte, welche die Natur zu erkennen giebt, eine, nur ver- steckte Einheit sehe und sie womöglich aus einer Grundkraft ableite, wenn sie selbst nach den Gesetzen des logischen Denkens den Begriff einer Welt, in welcher alle Kräfte un- gleich wären, als einen , der sich nicht widerspricht , bilden darf? Es lässt sich gewiss der Fall denken, wonach unter den mannigfaltigen Dingen eine so grosse Verschiedenheit stattfindet, dass selbst der allerschärfste Verstand durch Vergleichung der einen mit den anderen nicht die geringste Aehnlichkeit ausfindig machen könnte. Wie aber bestände denn thatsächlich das logische Princip der Gattungen? Warum ist gerade dieses entstanden und nicht sein Gegen-

') Kr. S.325. ^) Kr. S.351.

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theil? Wie könnte es Allgemcinbe.L,^rifte jirehcn, ja selbst einen Verstand? Auf Grund der ThatHache des 1 (»ti- schen Principe s der Einheit niuss mau das Erkcnnt- nissprincip der Einheit aller Dinge annehmen, eine Voraus- setzung, die man auf bewunderungswürdige Weise in den Grundsätzen der Philosoplien versteckt wiederfindet. Man darf nicht sagen, die Vernunft habe ihr Princip der Einheit der zufälligen Beschaffenheit der Natur nachgebildet. Ehe die Vernunft danach sucht, bedarf sie eines Gesetzes, da- nach zu suchen. Das logische Princip geht also der Erfah- rung voran und treibt dazu und leitet sie.

Während eine Partei unter den Naturforschern, diesem Gesetze huldigend, alle Verschiedenheiten der Dinge auf die Einheit der Gattungen zurückzufüliren sucht, legt es eine andere es sind vorzüglich empirische Köpfe darauf an,, die Natur ii» so viele Mannigfaltigkeiten zu spalten, dass man beinah die Hoffnung aufgeben muss, ihre Erscheinungen nach allgemeinen Principien zu beurt heilen. Solcher Denkungsart liegt offenbar auch ein logisches Princip zu Grunde; es ist das der Arten, der Specification. Die Gattungsbegriffe fordern um ihres eigenen Daseins willen Artbegriffe, diese verschiedene Unterarten von Begriffen. Und da ja kein Begriff als völlig bestimmt augesehen wer- den kann, so darf man selbst den untersten Artbegriff noch nicht für den letzten ansehen. Die Dinge müssen daher verschieden sein. Denn sonst hätte das logische Gesetz von der Verschiedenheit der Begriffe keinen Sinn und fände nie- mals Anwendung. Die Erkenntniss der Erscheinungen for- dert gradezu eine unaufhörlich fortzusetzende Specification, nähere Angaben der Unterschiede ihrer Begriffe und bewegt den Naturforscher, immer tiefer in die feinsten Unterschiede der Dinge einzudringen. Dieses Gesetz kann ebenfalls nicht der Erfahrung entstammen; denn sie ist nicht im Stande so weitgehende Eröffnungen zu machen.

Beide Gesetze, nach deren einem die einzelnen Dinge in einem allumfassenden Pan aufgingen, während das andere die Welt in eine unbestimmte Menge grundverschiedener Atome auflöste, widerstreiten einander. Jedes von ihnen

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verleitet den Forscher, ihm allein zu folgen. Daher die einseitigen Naturaiiffassungen , die einander befehden, weil sie sich nicht verstehen. Das dritte Princip der Continuität macht die Naturphilosophie überhaupt erst zur Wissenschaft. Es gebietet einen fortwährenden, ununterbrochenen Ueber- gang von einer Art zu der anderen, indem die Inhalte der mannigfach in den Dingen mit einander vereinigten Eigen- schaften stufenweise, gradweise vom Nullwerthe bis zu ihrer höchstmöglichen Vollkommenheit wachsen. Danach sind die Dinge einander gleich und verschieden, sie sind mit ein- ander verwandt. Das Gesetz der Continuität vermittelt demnach die beiden vorigen widerstreitenden Standpunkte und verhütet, dass man sich einseitig auf dem einen oder dem anderen festsetzt. Es beruht nicht auf empirischer Erfahrung. Denn dann würde es nach der Vollendung der Systeme aufgestellt werden müssen. Dagegen spricht der Umstand, dass es erst eine wissenschaftliche Naturbetrachtung über- haupt ermöglicht. Es ist vielmehr eine Voraussetzung, die man wegen der Thatsache des logischen Principes von der Verwandtschaft der Begritfe anzunehmen gezwun- gen wird 1).

III.

Zu allem Dem ist nun zunächst Zweierlei zu bemerken. Erstens: Von der ersten Hauptdenkform, der Form des Be- griffes, hat Kaut merkwürdiger Weise so unmittelbar wie von den Formen der Urtheile und Schlüsse keine meta- physischen Begriffe abgeleitet. Die Form des Begriffes ist wol für seine Untersuchung nicht verschwunden, wie Lotze ohne Weiteres in seiner Metaphysik (S. 31) behauptet. Wenig- stens hat Kant von dem logischen Grundbegriffe, welcher die Einheit einer Urtheilsform darstellen soll, den meta- physischen Begriff' der Kategorie abgezogen. Das hingegen ist auffällig , dass die Form des Begriffes in erster Linie über- gangen und dass der Grundbegriff auf einem Umwege, unter Vermittelung der Urtheilsform für die Untersuchung ge-

')Kr. S.516ff.

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Wonnen wird. Und das niuHK umHoniolir {luffallcn, aln Kant aus den wechBelsciti,i;en Verhältnissen aller IJef^rifie zu- sammen, aus ihrer Einheit, ihren Unterschieden, ihrer Ver- wandtschaft — ohne Mittelglied die erkenntnisstheo re- tischen Principien der Homogeneität, 8i)ecificati()n und Con- tinuität oder Affinität als Voraussetzungen zur Erklärung der Welt der Dinge gefolgert hat. Wenn ihn dazu die Formen, in welchen uns die Gesammtheit aller Begriffe er- scheint, bewogen; warum sollte ihm die Form des einzelnen an sich dann nicht um so eher über metaphysiche Verhält- nisse haben Aufschluss geben können ? Dass er diese Lücke in der Parallelisirung der logischen Formen mit den meta- physischen gelassen hat, ist vielleicht so zu erkläien : Wenn man ein Erkenntnissvermögen ins Spiel setzt, meint er, so thun sich nach den verschiedenen Anlässen verschiedene Begriffe hervor, welche dieses Vermögen kennbar machen ^). Nun verwirft er zwar in dem Zusammenhange, wohinein die citirte Stelle gehört, ein derartiges Verfahren, zu den Kategorien zu gelangen, als ein unwissenschaftliches. Er selbst setzt doch aber gemäss den Anweisungen der allge- meinen Logik das Denkvermögen des Urtheilens in allen Variationen ins Spiel, um so die Grundbegriffe festzustellen, und stützt sich dabei auf da^x\nsehcn, welches die Wissen- schaft der Logik allgemach erlangt hat. Er billigt also ein solches Verfahren, wenn es nicht auf gut Glück, sondern nach einer sicheren Regel und Richtschnur eingeschlagen wird. Wenn endlich das Urtheilen die höchste Verstandes- handlung ist, in welcher alle anderen inbegriffen sind, so sieht man freilich nicht ein, wo da noch andere Erkenntniss- formen gleichen Ansehens zu finden wären, und möchte die Methode Kant's anerkennen, wenn es nur wahr wäre, dass das Urtheilen ausschliesslich eine so hervorragende Stellung einnimmt. Kant glaubt es deswegen, weil der Verstand, nach seiner Meinung, gemäss seiner eigensten Natur ein thätiges Erkenntnissvermögen ist; erkennen aber heisst thatig sein. Der Begriff ist ein fertiger Besitz des Verstandes

1) Ki\ S. 111.

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und nicht eine Thätigkeit desselben wie das Urtheilen. Im Begriffe allein haben wir zudem noch keine Erkenntniss, da er sich ja nie auf einen Ge'ienstand unmittelbar bezieht; erst das Urtheilen bringt Erkenntniss hervor. Es scheint: in dem Urtheilen, nicht im Begriffe offenbart sich der Ver- stand alß ein Vermögen der Erkenntniss und zwar ur- sprünglich.

Zweitens. Die Bedeutung, welche der Schluss inner- halb des Ganzen erlangt hat, ist eine wesentlich andere als die des Urtlieils und bricht dem Werke Kant's die Spitze ab. Das Schliessen, meint er, sei zwar auch eine Denk- handlung, eine Handlung der Vernunft. Die Vernunft „er- kennt" jedoch nicht, nur der Verstand, weil er allein un- mittelbar auf die Erscheinungen sich bezieht. Will die Vernunft erkennen, so ist das eine unerlaubte Anmassung. Es ist dieses psychologische Vorurtheil, welches Kant ver- leitet hat, nicht eine Analytik der Vernunft wie die des Verstandes als eine Logik der Wahrheit zu schreiben, son- dern eine Logik des Scheins zur Vernichtung ihrer An- sprüche, auch theilzunehmen an der Erkenntniss der Wahrheit.

Um nunmehr einzelne Bestimmungen näher zu prüfen, so steht und fällt jede Kategorie mit ihrer Voraussetzung in der Tafel der Urtheilsformen. Zur Untersuchung der Richtigkeit der letzteren diene Kant's eigene Erklärung der Form eines Unheils als Massstab. Hinsichtlich der Form war das Urtheil die in der Copula „ist" sprachlich hervor- gehobene, objective Einheit zweier Vorstellungen, von denen die eine, die höhere, das Prädicat, die andere, die niedere, das Subject, in sich begreift. Die Form wird ersichtlich von beiden Begriffen gebildet. Ihre besondere Art und Be- schaffenheit wii'd von der besonderen Gestaltung des Ver- hältnisses beider Vorstellungen zu einander abhängen. Sind die § 9 der Kritik der reinen Vernunft aufgeführten ver- schiedenen Urtheilsformen nach dieser Norm wirklich unter- schieden worden ?

Die Eintheilung der Urtheile in allgemeine, besondere und einzelne ist bedingt durch den Unterschied des Um- fanges des Subjectsbcgriftes. Nur die Eine Vorstellung, der

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Sul)ject8be^riff, giebt den AuHschlag. Man muns tincrkcnnen, dass diese IJiitersclicidimn- die Form des UrtheÜH in dem an- gegebenen Sinne nicht tritlt. Höchstens wird man sagen : der Grad der Zugehörigkeit des Prüdicatsbegiitlcs /um Sub- jectsbegrilVe ist im allgemeinen Urtheile ein luiherer als im besonderen und einzelnen. Urtheile ich einmal : alle Men- schen sind vernunftbegabte Wesen , und dann : einige Men- schen sind gelehrt, so bezeichne ich gewiss mit dem Prädicate „vernunftbegabte Wesen^' etwas der menschlichen Natur mehr Eigenthiimliches als mit dem Prädicate der Gelehrsamkeit. Im ersten Urtheile nimmt das Subject eine intensivere Geltung seines Prädicatsbegrifi'es in Anspruch, als dies im zweiten der Fall ist. Mag diese logische Bestimmtheit des allge- meinen gegenüber dem besonderen und des besonderen gegen- über dem einzelneu Urtheile als Voraussetzung für meta- physische Begriffe führen, wohin sie will: Kant hat diese innere Giltigkeit in ihrer Verschiedenheit bei diesen Urtheileu nicht hervorgehoben. Er hat die in dem jedesmaligen Ur- theile durch den Subjectsbegriff bezeichneten Gegenstände gezählt und damit einen äusserlicheu, höchst untergeordneten Gesichtspunkt verfolgt, der nicht berechtigt, diese quantita- tiven Urtheile anderen viel wichtigeren Urtheilen beizuordnen. Ueberdies begeht er gewiss einen neuen Fehler, wenn er die allgemeinen von den einzelneu Urtheilen aus dem Grunde absondert, weil die Grösse, der Umfang der Erkenntniss, welche die einen und die andern lietern, ^ erschieden sei, obgleich sie, logisch betrachtet, einander gleichen. Es sollen doch gerade logische Voraussetzungen gemacht werden und keine erkenntnisstheoretischen, wie vom Umfange einer Er- kenntniss. Die Frage nach diesem hat er ja ausdrücklich als eine transscendentale anerkannt. Eine Unterscheidung aus erkenntnisstheoietischem Interesse an dieser Stelle setzt schon voraus, was erst erschlossen werden soll.

Das verneinende Urtheil besagt, dass man sich zwei Begriffe mit einander in einem Object verbunden nicht denkt. Die sachliche Verbindung beider, die in einem bejahenden Urtheile wirklich möglich oder scheinbar möglich ist, hebt es als eine nicht wirkliche oder vielmehr in der Wirklichkeit

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lüclit geltende auf. Gegen die sachliche Giltigkeit einer be- jahenden Urtheilsforni richtet sich sonach die Verneinung und nicht gegen eine besondere Art der Begriffsverbindung, um eine andere besondere an deren Stelle zu setzen. Der Unterschied zwischen den bejahenden und verneinenden Ur- theilen ist ein sachlicher, kein formaler. Die unendlichen Urtheile hält man meist für ein schlechtes Kunststück .der Logik.

Mit der nun folgenden dritten Klas-se der Urtlieils- formen kommt endlich das Wesentliche zur Sprache. Ihr Name, „Urtheile des Verhältnisses" zeigt an, dass hier zwei Vorstellungen (oder zwei und mehrere Urtheile) in ihrem gegenseitigen Verhältniss betrachtet werden sollen. Das- selbe kann nur von beiden Vorstellungen zusammen gebildet werden. Somit ist die eine Bedingung erfüllt. Das kate- gorische Urtheil ist das erste dieser Art. Es ist das Ver- hältniss von Subjects- und Prädicatsbegriffen. Wir brauchen es zum Ausdruck unserer inneren und äusseren Wahr- nehmungen und zwar vor allen anderen Urtheilsformen am häufigsten. Die Vorstellungsinhalte sind in der Wahrnehmung gegeben, auch eine Art von Verbindung derselben. Im Denken wiederholen wir, indem es in eigner Kraft die gegebenen Inhalte auffasst und verarbeitet, ihre Verbindung noch einmal und stellen sie uns in unserem Bewusstsein gegenständlich gegen- über. Damit gehen beide gegebenen Inhalte in eine neue Daseinsform über. Sie sind in die Welt des Vorstellbaren aufge- nommen. Die Wahrnehmung konnte uns nur ihr Zusammen- sein aufzeigen, das Denken verbindet sie als zusammenge- hörige. Ihr Verhältniss ist ein gesetzmässiges. So ist für das kategorische Urtheil auch die zweite Bedingung erfüllt.

Es spricht die Thatsache der Zusammengehörigkeit zweier Vorstellungen aus. Damit fühlt sich indessen das Denken noch nicht befriedigt. Es fordert noch den Grund, worauf die Thatsache der Zusammengehörigkeit beruht. Diesen Mangel beseitigt die Form des hypothetischen Urtheils. In einem neuen Urtheile giebt es den Grund an, warum die zwei Begriffe eines kategorischen wie zusammengehörige verbunden werden. Die Geltung des letzteren ist so an die Geltung des ersteren geknüpft, wie die Folge von ihrem

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Gninde a])liäiigt. Das Vcrlulltniss ])eider Urtheile wird vom Gesetze des Grundes und der Fol^-f^ heherrscht. Gegen die Unterselieidung- des hypotlietisehen Urtlieils vom kategorischen erhebt Trendelenburg Widerspruch „Das zweite Hedenkeu, sagt er (Gesch. d. Kateg. 8. ^91), trifft das kategorische und hypothetische Urtheil als zwei unterschiedene Arten der Relation. Die Grenzen sind schwer zu ziehen. Jedes kate- gorische Urtheil schliesst eine Hypothesis in sich und die hypothetischen Urtheile lassen sich in kategorische verwan- deln. Man vergleiche den doppelten gleichgeltenden Ausdruck des pythagoreischen Lehrsatzes: Wenn ein Dreieck recht- winklig ist, so ist das Quadrat der Hypotenuse der Summe der Quadrate der beiden Katheten gleich (hypothetisch) und : das rechtwinklige Dreieck hat die Eigenschaft, dass u. s. w. (kategorisch). Beide Formen bilden zusammen Eine Art." Gewiss schliesst jedes kategorische Urtheil eine Hyjiothesis in sich. Es können zwei Vorstellungen nicht als zusalnmen- gehörige mit einander verbunden werden, wenn in beiden nicht von vornherein die Zusammengehörigkeit begründet ist. Aber in dem kategorischen Urtheil denkt man den an sich bestehenden Grund nicht mit, sondern die zweite Form vollbringt erst in einem besonderen Urtheile diese specifisch reflectirende Denkhandlung. Das kategorische und hypothetische Urtheil unterscheiden sich wie eine Behauptung und eine begründete Behauptung. Den zweiten mit dem ersten in enger Verbindung stehenden Einwand anlangend, möge als Beispiel das bequemere hypo- thetische Urtheil dienen: Wenn es eine Gerechtigkeit giebt, wird der Böse bestraft. Dafür soll man nach Trendelenburg ebenso gut sagen können: die Gerechtigkeit bewirkt die Bestrafung des Bösen. Behauptet wird, dass die Form des letzteren Urtheils mit der des ersteren sich deckt. Für den Satz : der Böse wird bestraft, findet der reflectirende Verstand den Grund in dem Bedingungssatze: wenn es eine Gerech- tigkeit giebt und lässt ihn nun ohne Zweifel gelten. Aber der zweite Satz befriedigt den Verstand noch nicht; denn er stellt ihm ja die neue Aufgabe zu beantworten: warum bewirkt die Gerechtigkeit die Bestrafung des Bösen? Das

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kategorische Urtheil fordert ein hypothetisches zu seiner Ergänzung: Wenn (od. weil) der Böse das Gesetz übertreten, bewirkt die Gerechtigkeit seine Bestrafung. Die beiden Denkformen decken einander nicht. Es ist eine Täuschung zu glauben, dass die eine Form in die an- dere übergehen könne. Das ist auch in diesem Beispiel nicht geschehen. Vielmehr hat der Inhalt des hypothetischen Urtheils: die Gerechtigkeit, der Böse, das Bestrafen eine andere Form, die des kategorischen Urtheils angenommen. Das ist darum möglich, weil von einem weiter erhöhten Standpunkte der Ileflexion aus das Verhältniss eines bestimm- ten Grundes und einer bestimmten Folge als kein nothwen- diges mehr und eines weiteren, tiefer liegenden Grundes bedürftig erscheint. So lange dieser nicht gefunden ist oder wenn er nicht mitgedacht wird in dem Falle, dass man ihn kennt, wird das Verhältniss kein anderes als ein kategori- sches sein.

Das disjunctive Urtheil ist aus mehreren Urtheilen zu- sammengesetzt, deren gegenseitiges Verhältniss das Gesetz der Wechselwirkung regelt. Z. B.: die Körper sind entweder feste oder flüssige oder gasförmige. HierüJjer lassen sich folgende Betrachtungen anstellen: die Gegenstände, welche bestimmte Eindrücke bewirken und die rückwirkende Thätig- keit des Verstandes zu einem Urtheile veranlassen, sind die Körper. Sie erscheinen dem wahrnehmenden Subjecte als feste, als flüssige, als gasförmige. Jede dieser Erscheinungen bezeichnet einen Aggregatszustand von Körpern. Diese drei sind alle möglichen Aggregatszustände, die Körper annehmen können. Innerhalb der gemeinschaftlichen Beziehung sind sie von gleicher Giltigkeit, und es bilden alle drei zusammen wechselseitige Unterschiede, wonach ein Zustand den anderen ausschliesst : der feste Aggregatszustand ist nicht zugleich der gasförmige u, s. w. In dem Urtheile nun soll den wirk- lichen Körpern einer ihrer möglichen Aggregatszustände als wirklich an ihnen vorhanden zugeschrieben werden; es ist gleicligiltig, welcher es sein soll. Dann darf es nicht lauten: die Körper sind entweder feste oder flüssige. Denn da im Subjecte alle Körper ohne Ausnahme gemeint sind, entstände

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der Widerspruch, als oh die im Prädicate nicht liezeichnctcn ga8f{)rmi';en Gegenstände keine Körper wären, während sie es doch sind. Man miiss vielmehr urtheih'n: die Körper sind entweder feste oder flüssige oder gasförmige. Im Prä- dicate fordert, wenn nicht das Ganze der im SuhjectshegritTe bezeichneten Vorstellimgsinhalte aufgehest und zerstört werden soll, die Setzung des einen Zustandes die gleichzeitige Setzung der beiden anderen. Darin besteht die j)ositive Art der logischen Wechselwirkung. Das Urtheil spricht den Körpern von ihren möglichen Zuständen nur einen als den wirklichen zu und schliesst damit die anderen aus. Denn als Gegen- sätze können sie nicht ein und dasselbe zusammen sein. Dies ist die negative Art logischer Wechselwirkung. Alle drei Urtheile bilden ein Ganzes, welches aus einander for- dernden und doch wieder ausschliessenden Theilen besteht. Seine drei Theile stehen in gegenseitiger Abhängigkeit, der eine bedingt den anderen. Insofern ist das disjunctive Ur- theil von dem hypothetischen unterschieden. Es repräsentirt eine neue dritte Urtheilsform neben den beiden vorher- gehenden.

Die modalen Urtheile endlich sollen nichts zum Inhalte des Urtheils, d. h. der Urtheilsform beitragen. Denn ausser der Grösse, Beschaffenheit und dem Verhältnisse sei nichts mehr, was den Inhalt des Urtheils ausmacht. Die Modalität der Urtheile geht den Werth der Copula in Bezug auf das Denken überhaupt an. Es scheint, als ob sie das Urtheil als solches gar nicht angeht. Der problematische Satz beruht auf der freien Wahl des urtheilendeu Subjectes, ihn anzunehmen oder nicht; der assertorische besagt logische Wirklichkeit oder Wahrheit; der apodictische denkt sich den assertorischen durch die Gesetze des Verstandes selbst bestimmt und drückt, a priori behauptend, die Nothwendigkeit aus. Die Modalität verlegt den Schwerpunkt des Ui-theils ausschliesslich in das denkende Subject. Dem widerspricht die § 19 der Kritik gegebene Erklärung, nach welcher in einem Urtheile zwei Vorstellungen ohne Rücksicht auf den Zustand des Urtheilendeu verbunden sind. Denn seine Wahlfreiheit, seine Nöthigung sind subjective Zustände und

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als solche ungewiss. Der eine sieht sich gezwungen, ein bestimmtes Urtheil zu fällen, der Andere es zu leugnen; obenein haben beide die Sache nicht gründlich untersucht und sprechen in Wahrheit blosse Behauptungen aus. Aus dieser Urtheilsform lässt sich darüber gar nichts erkennen. Darum sind besondere Verba „müssen, können" zum Ausdruck der der Urtheilsform gleichgiltigen Modalität nöthig. Dann aber ist sie einfach kategorisch.

Gemäss seiner eigenen Erklärung des Urtheils hätte also Kant die quantitativen, qualitativen und modalen Urtheile als besondere Urtheilsformen als blosse Modificationen der Einen Verstandeshandlung, das Mannigfache der Vorstellungen zu einer Einheit zu verbinden, nicht aufführen dürfen. Sie, sammt ihren analytischen Einheits])egriffen sind ein Wider- spruch innerhalb seiner Voraussetzungen und ihre Kategorien auf eine ungenügende Weise gerechtfertigt. Nur die Urtheils- formen, die Grundbegriffe und die Kategorien der Relation entsprechen dem von Kant angenommen Massstabe.

Warum aber Kant ein Recht hat, der allgemeinen Logik einen solchen höheren Beruf in der Erkeuntnisslehre zuzu- erkennen, das möge in Kürze folgende Erwägung befürworten: Denken kann man Alles, das was ist, sowie das, was nicht ist; aber erkennen nur das Seiende. Die gesammte Welt des Vorstellbaren bildet den Inhalt des Denkens; die Er- kenntniss umfasst nur die Wirklichkeit. Es scheint, da doch die Wirklichkeit von dem bloss Vorstellbaren wesent- lich unterschieden ist, dass die Formen des Erkennens andere sein müssten, als die Formen des Denkens. Was könnte denn aber ein Gegenstand des Erkennens werden, wenn es nicht vor allen Dingen in jene reinen Formen des Denkens eingegangen wäre?i) Wir müssen Alles, was er- kannt werden soll, zuerst in die Formen des Begriffes, des Urtheils bringen, eher ist die wissenschaftliche Ueberlegung, das Erkennen nicht möglich. Die Denkformen sind also ein nothwendiger Bestandtheil der Erkenntnissformen. Sie sind die äussersten, allgemeinsten, allumfassenden Formen der Erkenntniss. Es ist eine natürliche Voraussetzung, sie in einem geordneten Zusammenhange mit den übrigen Be-

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stimmtheiten des. ErkcnntnissvcrmogcnK zu denken. Sie werden gewiss in den ganzen Apjjjirjit der ErkcnntniHs hineinpassen. Dann wird auch in ihnen, wie in jedem Theile eines organisch gehildeten Ganzen , der Plan des Ganzen der Erkenntniss ausgeprägt und sichtbar sein. Man wird im Stande sein, von ihnen, wenn sie bekannt sind, auf die übrigen, unbekannten Bestimmtheiten des Denkens zu schliessen. Dazu kommt, dass sich die Denkformen hierzu besonders durch den nicht zu unterschätzenden Um- stand empfehlen, dass in Bezug auf sie in den verschie- denen philosophischen Systemen verhältnissmässig die grösste Uebereinstimmung herrscht. Die Ableitung der Erkenntniss- formen von den Denkformen endlich führt, wie Trendelen- burg behauptet, an sich gar nicht zu „dem Irrthume, dass vor subjectiver Zuthat das Ding an sich nicht erkannt wer- den könne". Im Gegentheil führt eine wiederum natürliclie Vermuthung, dass die Denkform auch dem Denkinhalte, also auch dem Wirklichen entsprechen wird, welcher Vermuthung Kant nur nicht Raum gegeben hat, zu der Ueberzeugung, mit solchen Erkenntnissformen die Dinge an sich erkennen, wenigstens, was wir von den Dingen erfah- ren, als Wahrheit erfahren zu können. In ihrer Allgemein- heit sind sie andererseits zu unbestimmt und unzureicliend, das Wirkliche vollkommen zu erfassen : die Denkformen be- dürfen weiterer Bestimmungen, einer Ergänzung durch die kosmologischen Formen der Zeit, des Raumes, der Bewe- gung. Der sogenannte Schematismus der Verstandesbegrifte ist nicht bloss im Systeme Kaufs, sondern überhaupt noth- wendig; aber Kant hätte ihn nicht allein auf die Zeit be- schränken sollen.

Curriculum vitae.

Natus sum Gustaviis Schenke Saganeiisis a. d. III. Cal. Dec. an 110 1848 patre Augusto. Gymnasio usus sum Saga- nensi, unde anno 1869 Berolinum^ ut tlieologiac operam darem, profectus sum. Deinde Halis duos annos in tlieolo- giam et philosophiam incubui. Triennio absoluto et exa- mine theologico primo sustento nunc ad summos in philo- sophia honores rite capessendos animum induco.

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I

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Thesen.

I.

Kantium categorias revera genetice idque jure deduxisse affirmo.

n.

Dictum: „nihil est in intellectu, quod non antea fuerit in sensibus" repugnat universali causalitatis principio. .

in.

Scepticismus nihil aliud esse potest quam animi affectus.

IV.

Kantium voluptatem a virtute sejun^isse nego.

V.

Deum esse personalem non obest conceptui entis ab- soluta

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3 9424 01067 7323

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